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Der Ketzerlehrling

Der Ketzerlehrling

Titel: Der Ketzerlehrling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellis Peters
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abgeschüttelt, ein fehlbarer, um seinen Glauben besorgter Mensch. »Hier, von der Welt zurückgezogen oder schlimmstenfalls mit der näheren Umgebung und den in ihr lebenden Menschen befaßt, sind Euch die Gefahren des Irrglaubens unbekannt. Ich gestehe Euch zu, daß er bisher seinen Schatten noch nicht auf dieses Land geworfen hat. Ich bete darum, daß Eure Leute standhaft genug sein mögen, allen derartigen Versuchungen zu widerstehen. Aber sie kommen, Hochwürdiger Abt, sie kommen! Vom Osten aus bahnen sich die Schlangen der Verderbnis ihren Weg nach Westen, und bei allen Reisenden, die aus dem Osten kommen, befürchte ich, daß sie – vielleicht sogar unwissentlich – die üble Saat mitbringen, die dann hier Wurzeln schlägt und wächst.
    Böswillige Wanderprediger sind am Werk, in Flandern, in Frankreich, am Rhein, in der Lombardei; sie verleumden die Heilige Kirche und ihre Priesterschaft, behaupten, wir wären korrupt und habgierig, während die Apostel einfach gelebt hätten, in heiliger Armut. In Antwerpen hat ein gewisser Tachelm Tausende von Verblendeten um sich geschart; sie sind in Kirchen eingedrungen und haben ihren Schmuck heruntergerissen. In Rouen läuft ein weiterer solcher Mann herum, predigt Armut und Demut und verlangt Reformen. Ich bin im Auftrag meines Erzbischofs im Süden herumgereist und habe gesehen, wie der Irrtum wächst und sich ausbreitet wie ein Buschfeuer. Dabei handelt es sich nicht um einige wenige und harmlose Irre. In der Provence und im Languedoc gibt es Gegenden, in denen eine Form der manichäischen Ketzerei so stark geworden ist, daß man sie fast eine Gegenkirche nennen möchte. Kann es Euch da wundern, daß ich selbst den ersten schwachen Funken fürchte, der einen solchen Brand auslösen könnte?«
    »Nein«, sagte Radulfus, »das wundert mich nicht. Wir sollten niemals aufhören, wachsam zu sein. Aber wir müssen auch jeden Menschen deutlich vor uns sehen und alle seine Taten und Worte berücksichtigen; wir dürfen ihm nicht voreilig diesen alles verbergenden Mantel der Ketzerei überwerfen. Sobald das Wort Häresie einmal gesprochen ist, kann der Mensch selbst unsichtbar werden. Und damit entbehrlich! Hier haben wir es gewiß nicht mit einem Wanderprediger zu tun, einem Entflammer der Menge, einem ehrgeizigen Verrückten, der, um seine eigenen Ziele zu verfolgen, eine Gefolgschaft aufpeitscht.
    Der Junge sprach von einem Herrn, dem er gedient hat und den er schätzte, und deshalb neigte er dazu, sich lobend über ihn zu äußern, seine kühnen Zweifel zu verteidigen, und zwar loyal und hitzig, weil seine Gefährten ihre Stimme gegen ihn erhoben. Außerdem hatte er vermutlich genug getrunken, um seine Zunge zu lockern. Es ist durchaus möglich, daß er mehr gesagt und vor uns wiederholt hat, als er in Wirklichkeit glaubt, zu seinem eigenen Schaden. Sollen wir dasselbe tun?«
    »Nein«, sagte Gerbert nachdrücklich. »Das würde ich nicht wollen. Und ich sehe ihn auch deutlich. Wie Ihr mit Recht sagt, ist er kein Aufrührer, der Böses im Schilde führt, sondern ein braver, schwer arbeitender Bursche, seinem Herrn nützlich und zweifellos ehrlich und wohlmeinend gegenüber seinen Nachbarn. Seht Ihr nicht, in welchem Maße ihn das gefährlicher macht? Irrlehren zu hören von jemandem, der offenkundig selbst irrt und verworfen ist, das ist keine Versuchung, aber wenn man sie von jemandem hört, der gut aussieht und in gutem Ruf steht, der sie aus innerster Überzeugung ausspricht, dann kann das eine tödliche Verführung sein. Und deshalb fürchte ich ihn.«
    »Und deshalb ist der Heilige eines Jahrhunderts der Ketzer des nächsten«, erwiderte der Abt trocken, »und der Ketzer eines Jahrhunderts der Heilige des nächsten. Es empfiehlt sich, lange und in aller Gelassenheit nachzudenken, bevor man einem Menschen den Namen des einen oder des anderen anhängt.«
    »Damit vernachlässigen wir eine Pflicht, der wir uns nicht entziehen können«, sagte Gerbert, jetzt wieder aufgebracht.
    »Der Gefahr, die uns hier und jetzt droht, muß hier und jetzt begegnet werden, sonst ist die Schlacht verloren, denn dann ist die Saat ausgebracht und hat Wurzeln geschlagen.«
    »Dann können wir wenigstens die Spreu vom Weizen trennen. Und vergeßt nicht«, sagte Radulfus ernst, »daß überall, wo der Irrtum ehrlich gemeint ist und fehlgeleiteter Gutartigkeit entspringt, die Wunde durch Vernunft und Überredung geheilt werden kann.«
    »Oder, wenn das nicht gelingt«, sagte Gerbert mit

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