Der Ketzerlehrling
zurückweichen, nur um seine Haut zu retten. »Das habe ich gesagt. Und ich sage es abermals. Ich habe gesagt, daß es in unserer Macht liegt, uns unseren eigenen Weg zur Erlösung zu bahnen. Ich habe gesagt, daß wir über den freien Willen verfügen, uns zwischen Gut und Böse zu entscheiden, uns zum Himmel emporzuarbeiten oder hinunterzustürzen in die Hölle, und daß letzten Endes jeder am Tage des Jüngsten Gerichts Rechenschaft ablegen muß. Ich habe gesagt, wenn wir Menschen sind und keine Tiere, dann müssen wir uns unseren eigenen Weg zur Gnade suchen und dürfen nicht einfach auf dem Hintern sitzenbleiben und warten, bis sie uns erhebt – das wäre unwürdig.«
»Um solcher Arroganz willen«, trompetete Chorherr Gerbert, durch die blitzenden Augen und die feste Stimme ebenso herausgefordert wie durch das Gesagte, »und um solchen Stolzes willen wurden die aufrührerischen Engel gestürzt! Und das würdet Ihr auch tun ohne Gott, und Ihr leugnet die Gnade Gottes, das einzige, was Eure überhebliche Seele zu retten vermag …«
»Ihr tut mir Unrecht«, erwiderte Elave hitzig. »Ich leugne keineswegs die Gnade Gottes. Die Gnade liegt in den Gaben, die er uns verliehen hat, dem freien Willen, zwischen Gut und Böse zu wählen und uns selbst den Weg zur Erlösung zu bahnen – und in der Kraft, die richtige Wahl zu treffen. Wenn wir das unsere tun, wird Gott den Rest besorgen.«
Abt Radulfus klopfte scharf mit seinem Ring auf die Lehne seines Stuhls und rief die Versammlung mit unerschütterter Autorität zur Ordnung. »Was mich betrifft«, sagte er, als wieder Ruhe eingetreten war, »so kann ich einem Mann keinen Vorwurf daraus machen, wenn er überzeugt ist, daß er von der Gnade den rechten Gebrauch machen kann und sollte, um ihrer teilhaftig zu werden. Aber wir weichen von dem ab, um dessentwillen wir hier zusammengekommen sind. Hören wir uns an, was Elave gesagt haben soll, und soll er davon zugeben, was er zugeben will, und abstreiten, was er abstreiten will. Und dann sollen diese Zeugen es bestätigen oder widerlegen. Habt Ihr sonst noch etwas vorzubringen, Aldwin?«
Inzwischen hatte Aldwin begriffen, daß er im Umgang mit dem Abt Vorsicht walten lassen mußte und den nackten Worten, die er über Nacht auswendig gelernt hatte, nichts hinzufügen durfte.
»Nur noch eines, Vater. Ich sagte, ich hätte einmal von einem Priester gehört, der heilige Augustinus hätte geschrieben, daß die Zahl der Auserwählten feststehe und unveränderlich sei, und alle übrigen seien verdammt. Und er sagte, das glaube er nicht. Ich konnte mich nicht enthalten zu fragen, ob er nicht einmal dem heiligen Augustinus glaube? Und er hat wieder gesagt, das glaube er nicht.«
»Ich habe gesagt«, erklärte Elave hitzig, »ich könne nicht glauben, daß die Liste bereits voll ist. Weshalb sollten wir uns dann bemühen, gute Menschen zu sein und Gott zu ehren oder irgend etwas auf die Worte der Priester zu geben, die uns ermahnen, Recht zu tun, und die von uns Beichte und Buße verlangen, wenn wir gefehlt haben? Weshalb, wenn wir ohnehin verdammt sind, was immer wir tun? Und als er abermals fragte, ob ich dem heiligen Augustinus nicht glaubte, da habe ich gesagt, wenn er das geschrieben hat, nein, dann glaube ich ihm nicht. Denn ich weiß nicht, ob er jemals etwas dergleichen geschrieben hat.«
»Entspricht das der Wahrheit?« fragte Radulfus, bevor Gerbert etwas sagen konnte. »Aldwin, könnt Ihr bestätigen, daß dies tatsächlich die Worte waren, die er gesprochen hat?«
»Es kann sein«, pflichtete Aldwin ihm vorsichtig bei. »Ja, ich glaube, er hat gesagt, wenn der Heilige das geschrieben hat.
Für mich macht das keinen Unterschied, aber das könnt Ihr Herren besser beurteilen als ich.«
»Und das war alles? Ihr habt nichts mehr hinzuzufügen?«
»Nein, Vater, das war alles. Danach sind wir gegangen, wir wollten nichts mehr mit ihm zu tun haben.«
»Das war klug«, erklärte Chorherr Gerbert ingrimmig. »Und jetzt, Vater Abt, können wir uns wohl anhören, was die Zeugen zu sagen haben. Meiner Ansicht nach ist das, was wir vernommen haben, schwerwiegend genug, wenn diese beiden Personen das Gesagte bestätigen können.«
Conan lieferte seinen Bericht über die Unterhaltung am Vorabend so flüssig und bereitwillig, daß Cadfael das Gefühl nicht loswurde, er hätte seine Rede auswendig gelernt. Das Bild einer kleinen Verschwörung drängte sich ihm so deutlich auf, daß er sich wunderte, weshalb es nicht allen
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