Der Kinderdieb
»In der Feste.«
»Gibt es diese Feste wirklich?«
»Aber sicher.«
»Peter, wohin genau gehen wir?«
Peter setzte zu einer Antwort an, runzelte die Stirn, setzte erneut an und verstummte dann wieder. Er blinzelte. »He, was ist das?«
»Was?«
»Neben deinem Fuß.«
Nick konnte nichts erkennen. Es war zu dunkel.
»Ist das ein Scheißhaufen?«
Instinktiv zog Nick den Fuß weg. »Wo?«
Peter griff mit einer Hand in die Schatten. Als er sie zurückzog, lag ein unförmiger brauner Klumpen darin. Er hielt ihn in die Höhe. »Jau. Ein dicker, klebriger Scheißhaufen.«
Für Nick sah das Ding in Peters Hand nicht nach einem Scheißhaufen aus, sondern verdächtig nach einem
Lion
-Schokoriegel.
Peter biss ab. »Köstlich.«
Nick schnaubte und brach in Gelächter aus. Peter stimmte laut schmatzend ein. Es fiel Nick immer leichter, zu lachen. Seit dem Tod seines Vaters, seit er die Schule gewechselt hatte und sich mit diesem Dreckskerl Marko auseinandersetzen musste, hatte er völlig vergessen, wie es war, rumzublödeln und einfach nur ein Kind zu sein.
»He«, erklang eine krächzende Stimme aus den Schatten, gefolgt von einem Hustenanfall. »He, was … was macht ihr da?«
Nick und Peter schauten einander an und blickten dann zu dem Stapel Kartons neben der Mülltonne. Einer der Kartons fiel herunter, und eine Gestalt kam zum Vorschein.
Peter war sofort auf den Beinen.
Die Gestalt taumelte ins Laternenlicht, und Nick erkannte, dass es sich um einen Teenager handelte, der vielleicht zwei Jahre älter war als er. Das lange blonde Haar des Jungen war fettig und verfilzt, und er trug nur Jeans und ein gammeliges T-Shirt.
»Habt … habt ihr ein bisschen … Kleingeld über, Leute?« Seine Stimme klang schleppend und leicht benommen. »Muss mal … wo anrufen. Jedes bisschen hilft. Wie … sieht’s aus?«
Nick nahm die Schokoriegeltüten und stand auf. »Peter«, flüsterte Nick, »lass uns von hier verschwinden.«
»He, wo wollt ihr hin?« Der Teenager wankte auf sie zu und legte eine Hand ans Treppengeländer, um ihnen den Weg abzuschneiden. Aus der Nähe sah Nick, dass er Fieberbläschen auf den Lippen hatte und seine Augen blutunterlaufen waren. Der Teenager war so dürr, dass er sich immer wieder die Jeans hochziehen musste. Sein Blick fiel auf die Schokoriegeltüten in Nicks Händen. »He, wie wär’s, wenn ihr mir ein paar von den Dingern abgebt.«
»Die sind nicht für dich«, sagte Peter in einem kalten, abweisenden Ton.
Der Teenager wirkte verärgert. Er fing an, sich die Arme zu kratzen. Offensichtlich hatte er Schüttelfrost. Er schaute sie erneut an und schaffte es diesmal, sie genauer in Augenschein zu nehmen. »Was macht ihr beiden hier?« Er schaute sich hastig um. »Seid ihr allein?«
Es gefiel Nick ganz und gar nicht, wie sich der Tonfall des Teenagers veränderte. Er wollte sich an ihm vorbeidrücken. Der Teenager griff nach den Schokoriegeln, erwischte eine Tüte und riss sie Nick weg.
Peter stieß ein Fauchen aus, und im nächsten Moment hatte er ein Messer in der Hand. Das verdammte Ding war fast so lang wie Peters Unterarm.
Liebe Güte, wo hat er das denn plötzlich her?
Peter ließ die Klinge kreisen, sodass das Laternenlicht über die rasiermesserscharfe Schneide tanzte und der Teenager sehen konnte, welch bösartiges Versprechen sie barg. »Gib sie zurück«, sagte Peter.
»Ja. Ja, klar«, sagte der Teenager. »Nimm sie.« Er warf Nick die Tüte zu, hob die Hände und machte mehrere unsichere Schritte rückwärts, bis er gegen eine Hauswand stieß. »Ich hab nichts weiter. Mach schon, durchsuch mich. Ich hab nichts.« Und dann fügte er leise, wie zu sich selbst, hinzu:
»Nichts.«
Seine Schultern sackten herab, und er ließ die Hände sinken.
Er sah erschöpft aus, geschlagen,
allein
, ein kaputter Junkie mehr, der nirgendwohin konnte und um den sich niemand scherte. Nick fragte sich, warum dieser Junge sein Zuhause verlassen hatte, fragte sich, wie lange es noch dauern würde, bis es ihm genauso erging –
allein
, mit
nichts
.
»Verschwinden wir«, sagte Peter, steckte das Messer zurück in seine Jacke und schlenderte Richtung Straße.
Nick verzog das Gesicht.
Erwachsen werden kann echt mies sein
, dachte er.
Es ist verdammt klar, dass guten Menschen schlimme Dinge widerfahren und dass das der Welt im Großen und Ganzen egal ist.
Er griff in die Tüte mit den Schokoriegeln, zog eine Handvoll hervor und ließ sie auf der Treppe liegen. »Hier. Die sind für dich.« Dann
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