Der Kinderdieb
tatsächlich an der Zeit, sich selbst das eine oder andere zu nehmen.
Nick holte tief Luft und schob sich durch das Fenster. Er tastete mit den Beinen in der Dunkelheit herum, bis sein Fuß gegen eine Kiste stieß, auf die er sich herunterließ und dabei prompt zu Boden purzelte. Etwas schlug auf und zerbrach. »Mist«, sagte er und saß eine ganze Weile reglos da, während ihm das Herz bis zum Hals schlug. Er rechnete damit, Alarmrufe und Sirenen zu hören, mit hellen Lichtern und Hunden, mit der Gestapo. Als nichts geschah, rappelte er sich auf.
Im Keller roch es nach Schimmel, Staub und alter Pappe.
Wo ist Peter?
Nick bemerkte ein schwaches Licht, das seinen Ursprung am Kopf einer schmalen Treppe hatte. Mit ausgestreckten Armen bewegte er sich vorwärts. Das Adrenalin schoss ihm durch die Adern, und sein Herz schlug mit jedem Schritt lauter. »Ich kann es hören, Peter«, flüsterte er grinsend. »So klingt es, lebendig zu sein.«
Das Licht der Straßenlaternen strömte durchs Schaufenster herein und hüllte die Trikots, Baseballschläger, Bälle und Fahrräder in einen weichen bläulichen Schimmer. Peter war nirgends zu sehen. Nick schlich an den Plaketten und Pokalen aus den unteren Ligen vorbei und ließ die Kasse links liegen. Er wusste, dass die meisten Geschäftsinhaber über Nacht kein Geld in der Kasse ließen, und selbst wenn: Hier ging es nicht um Geld. Er war nicht hier, um zu stehlen, zumindest nicht in diesem Sinne. Das hier war irgendwie etwas anderes. Es ging darum, sich etwas zurückzuholen, vielleicht auch um Kontrolle, um das Bedürfnis, sein Schicksal ausnahmsweise selbst in die Hand zu nehmen – ob nun zum Guten oder zum Schlechten.
Auf der Suche nach Peters zerzaustem Haarschopf spähte Nick über die Ständer mit den Trikots und Trainingsanzügen. Den goldäugigen Jungen fand er nicht, dafür entdeckte er Schuhe. Ein ganzes Wandregal voll Schuhe. Er interessierte sich nicht für die exklusiveren Modelle mit Federung, Gelsohlen, Luftpolster, Glanz und Glitter – die Exemplare, die die Jungs von seiner Schule als
oberkrass
bezeichneten. Stattdessen schoss er sich auf ein ganz bestimmtes, grün-schwarz kariertes Paar
Vans
ein.
»Bingo«, sagte er, genau wie zuvor Peter.
Er nahm sich einen Moment Zeit, um die Schuhe einfach nur glücklich zu betrachten, und ließ dann den Blick auf der Suche nach einem Paar in Größe neun über die Schuhkartons wandern. Er fand einmal die Zehn, mehrmals die Dreizehn, eine Sieben und eine Sechs, aber keine Neun. Er runzelte die Stirn.
»Bitte sei da. Sei da, sei da, sei da.« Ein Lächeln erstrahlte in seinem Gesicht. Da. »Ja!«
Er griff nach dem Karton, öffnete ihn jedoch nicht gleich. Stattdessen hielt er ihn einfach fest, wie ein Weihnachtsgeschenk, das er nun endlich auspacken durfte. Langsam hob Nick den Deckel an, genoss den durchdringenden Geruch vonGummi und Klebstoff, zog die Schuhe hervor und hielt sie ins Licht.
»Wunderbar!«, sagte er mit einem zufriedenen Seufzer, ließ den Karton fallen und setzte sich auf eine Bank.
Er zog seine Schuhe aus der Sonderangebotstonne aus und musterte das gebrochene, sich ablösende Gummi und die ausgefransten Nähte. Die Schuhe erinnerten ihn an seine Mutter – an seine
Geizkragen-
Mutter. Er schleuderte die Schuhe gegen die Wand. Im Nu zog er sich die
Vans
an, sprang federnd auf und betrachtete sich im Spiegel. Nick erstarrte. Hinter ihm bemerkte er ein bleiches, gehetztes Gesicht, das ihn aus den Schatten beobachtete, wie eine Katze, die eine Maus belauert.
So viel Freude wegen eines Paars Schuhe
, dachte Peter und beneidete Nick mit einem Mal schmerzlich. Die schlichte Freude des Jungen erinnerte ihn an all das, was er verloren hatte. Er sagte sich, dass Schuhe bald Nicks geringste Sorge sein würden.
Nick zuckte zusammen und fuhr herum. »Mann, ey. Ich hätte mir fast in die Hosen gemacht vor Schreck.«
»Super Schuhe«, sagte Peter und setzte sein schönstes Lächeln auf.
Nick musterte sein Gegenüber einen Moment lang und blickte dann wieder auf seine Schuhe. Er leckte einen Finger ab und berührte die Schnürsenkel, wobei er ein zischendes Geräusch mit der Zunge machte. »Wart’s ab, Mann.« Nick grinste. »In diesen Dingern bin ich tödlich.«
Peter lachte.
»He, Mann. Schau dir das mal an.« Nick trat an einen Ständer mit Skateboards, nahm eines, ließ es auf seine Schuhspitze fallen und drehte es mit einer schnellen Fußbewegung um, sodass es auf den Rädern landete.
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