Der Kinderdieb
Steine, und es wurde dunkel im Garten. Der Teich begann von innen heraus zu leuchten, und ein unheimlicher grüner Nebel erhob sich von seiner Oberfläche. Der Kapitän spürte ein Kribbeln auf der Haut, als schaurige Gestalten aus dem Wasser hervorbrodelten und auf die Männer zukrochen, Wesen mit Tausenden von Zähnen und langen Knochenfingern, Wesen, die heulten und stöhnten.
»Fort«, brüllte die Dame den Männern entgegen, und ihre Stimme hallte von den hoch aufragenden Felswänden wider. »Wenn ihr nicht wollt, dass meine Kinder euch in den Nebel holen. Wenn ihr nicht auf ewig mit euren verlorenen Brüdern umherirren wollt.«
Die Männer verharrten unsicher, und einige sahen aus, als wollten sie sich am liebsten umdrehen und weglaufen.
»Bleibt, wo ihr seid«, befahl der Prediger. »Das ist nichts als Rauch und Täuschung. Sie hat keine Macht über
Gottes
Kinder!« Um die Wahrheit seiner Worte zu beweisen, rannte er durch den Nebel auf die Dame zu. Seine Füße wirbelten die tastenden Nebelfäden auf. Er holte mit seinem Stab nach der Dame aus, und sie stob zu tausend schwarzen Schmetterlingen auseinander.
Der Kapitän spürte, wie der Bann von ihm wich. Er umfasste die ihm entgleitende Axt und schlug sie fest und zielgenau in den Apfelbaum. Das Blatt bohrte sich in die fleischige Borke, und ein Schwall Blut strömte aus der Wunde. Die Dame schrie, als hätte er ihr ins Fleisch geschnitten. Er schwang die Axt erneut, und sie grub sich erneut tief in den Stamm. Wieder heulte die Dame auf, nur war es diesmal kein Schmerzensschrei, sondern ein trauriges Wehklagen, und die schwarzen Schmetterlinge regneten tot auf die Wasseroberfläche herab.
Die Männer schwärmten im Garten aus und machten sich daran, die Tiere zu töten und die kleinen geflügelten Wesen unter ihren Stiefeln zu zertreten.
Das Wasser um die kleine Insel blubberte, und der Kapitän sah, dass etwas Silbriges auf einer Spiralbahn Richtung Oberfläche schoss. Die Dame durchbrach die Wasseroberfläche, und diesmal war sie kein Trugbild. Er erkannte deutlich, dass sie aus Fleisch und Blut bestand, eine feingliedrige Frau mit geisterhaft weißer Haut und unergründlichen, tierhaften Augen. Sie berührte ihn mit diesen Augen, diesen verwirrend blauen Augen, hielt ihn fest. Dann streckte sie die Arme aus, und erneut schlängelte ihre Stimme sich in seinen Kopf.
Kapitän, bitte komm mit mir nach Hause. Deine Kinder rufen nach dir
. Plötzlich hörte er sie,
seine Jungen
, die seinen Namen riefen und ihn baten, nach Hause zu kommen.
»Nein«, flüsterte der Kapitän und riss den Blick von der Dame los. Er stemmte den Fuß gegen den Baum und riss die Axt ausdem Stamm. Dann hob er sie über den Kopf und schlug erneut – und wieder und wieder. Die weißen Blätter schwebten wie Schneeflocken um ihn herab. Mit jedem Hieb wurde die Stimme der Dame schwächer, bis kaum mehr als ein kraftloses Flehen von ihr blieb. Da spürte er eine Hand an seinem Stiefel. Dort lag sie, hielt sich am Ufer fest und krallte sich an seinen Stiefel, doch sie war zerbrechlich und zu schwach, um mehr zu tun, als ihn zu berühren.
Die Luft füllte sich mit Rauch, und das Knistern von Flammen erklang, als die Männer die Rankgitter in Brand steckten. Das Herzblut des Baums strömte ins Wasser und färbte den Teich rot. Nach einem letzten Hieb gab der Baum der Schwerkraft nach und kippte wie in Zeitlupe ins Wasser.
Das Leuchten des Teichs erstarb, und der Nebel verzog sich. Die Dame trieb auf den Baum zu, rollte sich im Geäst zusammen und umarmte das Holz, wie eine Mutter ein Neugeborenes umarmt.
»Ihr Zauber ist gebrochen!«, rief der Prediger triumphierend. »Bringt sie zu mir.«
Vier Männer stürzten sich in den Teich. Sie warfen ein Netz über die Dame und zogen sie an Land, durch den Schlamm und vor die Füße des Predigers.
Der Geistliche erspähte den kleinen Stern, der ihr um den Hals hing. Er riss ihn ab und trat ihn in den Schlamm. Dann zerrte er die goldenen Schnallen von ihrem Kleid und zerschmetterte sie auf einem Stein. »Sorgt dafür, dass sie kein weiteres Hexenwerk verstecken kann«, befahl er.
Die Männer zogen ihr das Kleid aus und stießen sie in den Schlamm.
Die Dame hob den Kopf. Ihre wilden, tierhaften Augen waren weit aufgerissen, ihr Blick war gehetzt. Sie starrte in die Flammen, die alle Blumen und Büsche verzehrten, auf die verstümmelten Tiere, Wichte, Pixies und Nymphen – und schließlichzum
Baum
. Ein langgezogenes, qualvolles Heulen
Weitere Kostenlose Bücher