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Der Kinderdieb

Titel: Der Kinderdieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brom
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gebracht, Vater. Erkennst du das?«
    Mit einem Mal hörte er Stimmen. Eine Milliarde Stimmen, die Schreie aller, die je in Avalon gelebt hatten und gestorben waren. Ihr Wehklagen hallte in Ulfgers Helm wider und drang so tief in seinen Schädel, bis er meinte, dass ihm die Ohren bluteten. Ulfger brüllte, riss sich den Helm vom Kopf und schleuderte ihn auf seinen Vater. Er kroch unter den Leichnam, rollte sich im Schiffsrumpf zusammen und krallte sich die Finger ins Gesicht.
    »Nimm mich mit«, flennte Ulfger. »Vater, bitte, bitte nimm mich mit.«
     
    Ein Wehklagen erfüllte die Nacht. Es kam von überall, stammte vom Land selbst. Nick schloss zu Peter auf.
    Ein weiterer Klagelaut ertönte, diesmal gefolgt von einem kurzen Erdbeben.
    »Was ist das?«, fragte Nick.
    »Die Dame«, flüsterte Peter mit erschütterter Miene und spurtete den Pfad entlang.
    Nick folgte ihm, doch da Peter mit aller Kraft rannte, verlor er ihn bald aus den Augen. Allerdings war es nicht schwer, zu erraten, wohin er wollte. Ein rotes Glosen erhob sich über die Baumwipfel, und Nick hastete darauf zu.
    Die Steigung nahm zu, Nicks Lungen brannten, das Herz hämmerte ihm in der Brust, und seine Beine schmerzten, doch er gab nicht auf, sondern rannte, so schnell er konnte. Er sah Glühwürmchen durch die Nacht tanzen, aber als er heiße Asche auf dem Gesicht spürte und brennendes Laub roch, wurde ihm klar, dass es sich um Funken handelte. Er kam an der Elfenhalle vorbei, die nur mehr eine verkohlte Ruine war, und eilte durch die Schlossgärten, durch die kleine Schlucht und über den Felssims, wobei er immer wieder kleinen Buschfeuern auswich.
    Er fand Peter knietief in einem kleinen Teich stehend vor. Das trübe Wasser war gerötet.
Blut
, dachte Nick.
Es sieht aus wie Blut
.
    Erst als Nick die dahintreibenden Leichname sah, die wie ein makaberer Damm an einem Ende des Teichs aufgehäuft waren, wurde ihm klar, dass die hoch aufragenden Felswände und Wasserfälle verschwunden waren, in sich zusammengestürzt, dass er dort stand, wo einmal der Hort gewesen war. Jetzt schoss das Wasser in Geysiren aus dem Fels, und die Wipfel brannten. Und dann entdeckte er ihn: Avallachs Baum, dessen Äste sich wie im Todeskrampf einwärts gekrümmt hatten und dessen weiße Borke abblätterte, um den Blick auf knochenfarbenes Holz und verschrumpelte Adern freizugeben.
    Peter platschte zwischen den Felsbrocken umher und sammelte hektisch Dinge aus dem Teich. Nick trat ans Ufer. Im Wasser trieben Äpfel, und Peter hatte sich bereits sämtlicheTaschen und den Beutel damit gefüllt. Er hatte längst so viele, wie er tragen konnte, doch er sammelte unermüdlich weiter. Jedes Mal, wenn er einen weiteren Apfel aufhob, purzelten mehrere Früchte von seinen Armen.
    Peter schaute mit gehetztem, verzweifeltem Blick zu Nick. »Hilf mir! Wir
müssen
sie retten. Jeden Einzelnen.«
    Nick sah eine tote Nymphe vorbeitreiben, der sie das halbe Gesicht abgerissen hatten. Sie starrte ihn aus ihrem einen Auge an. Ein weiteres Beben ließ den Boden unter ihnen erzittern, und mehrere große Felsbrocken stürzten keine hundert Meter von ihnen entfernt herab. »Peter, wir müssen hier weg.«
    Peter schien ihn nicht zu hören.
    Ein starker Wind peitschte durch das Tal und blies Nick die Haare aus den Augen. Er hatte das Gefühl, dass der Wind einen vertrauten Duft mit sich trug, nicht nur den Geruch brennender Blätter. Im ersten Moment konnte er ihn nicht einordnen, aber dann riss er die Augen auf. Es roch nach der
Stadt – nach New York!
Er hörte einen Möwenschrei und blickte nach oben. War das ein Stern, oder nur Asche? Nick rannte den Pfad ein paar Meter zurück, um besser sehen zu können. Da, ganz schwach:
ein Stern!
Die Wolken zogen weiter, und er erkannte mehr.
    Etwas flatterte neben Nicks Ohr, und ein blaues Licht flitzte an ihm vorbei.
Das Pixiemädchen
, dachte er. Brummend flog es direkt vor seine Nase und versetzte ihr einen Stoß. »Autsch«, sagte Nick.
    Das Mädchen flog ein Stück den Pfad entlang und leuchtete dabei auf den Boden. Blinkend winkte sie ihn heran. Nick ging zu ihr und beugte sich vor. Im weichen grauen Matsch erblickte er die Stiefelabdrücke von Dutzenden von Männern. Dann fiel ihm auf, worauf sie zeigte: ein paar Hufabdrücke. Nick brauchte einen Moment, um zu begreifen.
    »Der Troll!« Nick schnaufte. »Peter«, rief er dann, doch derdrehte sich nicht mal um. Nick rannte den Pfad hinauf. »Peter!«
    Peter kniete am Ufer und hielt etwas in den

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