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Der Kinderdieb

Titel: Der Kinderdieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brom
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nächsten Moment den hohen
Nike
-Schuh erblickte, gefror ihm das Blut in den Adern. Er lag einfach nur so da. Nick konnte den Blick nicht abwenden, weshalb er erst merkte, was direkt vor ihm lag, als er auf etwas Weiches trat. Er sah hinab und stellte fest, dass er auf dem Arm eines Jungen stand. Sein Schuh hatte sich in das weiche, nachgiebige Fleisch gebohrt.
    Nick wich taumelnd zurück.
Lieber Himmel! Oh, Herr im Himmel!
Er steckte sich eine Faust in den Mund und biss sich fest auf die Fingerknöchel.
    Der tote Junge war etwa so alt wie er selbst, was sich aufgrund seiner ausgeblichenen und abgeblätterten Haut allerdings kaum mit Sicherheit sagen ließ. Die Augen standen weit offen, und sein Mund formte ein großes, gähnendes O. Es bereitete Nick keine Schwierigkeiten, den entsetzten Ausdruck zu deuten, der sich auf dem Gesicht verewigt hatte. Er glich seiner eigenen Miene.
Wenn ich jetzt schreie
, dachte Nick,
wache ich vielleicht zu Hause in meinem Bett auf. Vielleicht höre ich dann, wie Marko und seine dämlichen Freunde unten Müll bauen, und vielleicht ist es mir sogar einfach egal, weil nämlich alles besser ist, als hier herumzuirren und auf tote Kinder zu treten.
    Doch Nick schrie nicht, weil er nicht wirklich daran glaubte, dass er träumte – all das war real, jede Einzelheit. Er wusste, wenn er jetzt schrie, würden
sie
– wer auch immer
sie
waren – ihn hören.
    »Peter«, flüsterte er. Peter ging weiter. »Peter«, rief er, »ich will zurück.« Zu Nicks Erschrecken trug seine Stimme weit. Sie hallte nicht nur wider, sondern pflanzte sich durch den Nebel fort, als ob der graue Dunst sie weitertrüge.
    Peter wandte sich mit entsetzter Miene zu ihm um.
    Da hörte Nick die Stimmen. Zuerst waren sie leise und entfernt, doch sie näherten sich schnell: die leisen Rufe von Kindern, helle, singende Frauenstimmen und der tiefe Bariton von Männern. Sie lachten und wirkten ausgelassen, als ob sie auf dem Weg zu einem sommerlichen Picknick wären. Doch zwischen diesen Stimmen, oder vielleicht auch in ihnen, vernahm er ein Wehklagen, ein kummervolles, grausiges Heulen. Sämtliche Nackenhaare stellten sich ihm auf.
    »Sie haben uns gefunden«, sagte Peter mit eiskalter, tonloser Stimme.
    »Gefunden?
Wer
hat uns gefunden?«
    »Nick«, sagte Peter eindringlich. »Was du auch hörst, was du auch siehst, achte nicht auf sie. Schau ihnen nicht in die Augen. Und egal was du tust, wage es nicht, mit ihnen zu sprechen.« Peter starrte in den Nebel. »Wenn du vom Weg abkommst, dann werden deine Knochen diesen Ort niemals verlassen.«
    WAS SOLL DER SCHEISS?
, dachte Nick völlig verwirrt. Dann bemerkte er plötzlich eine Bewegung. Etwas regte sich im Nebel.
    Schatten, nichts als Schatten, trieben Grau in Grau durch den Nebel. Manche von ihnen waren massig und wälzten sich seltsam zäh vorwärts, andere waren klein und flink wie Spatzen, während es sich bei den meisten einfach nur um flüchtige, unbestimmte Dunstschwaden handelte. Ihr Flüstern und Rufen hallte um sie herum wider und stahl sich in Nicks Gedanken.
    Der Junge schaute zu Peter, der starr geradeaus blickte und zügig weitermarschierte.
    Nick biss die Zähne zusammen, ballte die Hände zu Fäusten und drückte sie fest gegen die Brust. Er versuchte ruhiger zu atmen.
Bleib nicht zu weit zurück. Egal was du tust, bleib bloß nicht zu weit zurück.
Er ging schneller und heftete sich dicht an Peters Hacken.
    Neben ihm begann der Nebel zu wirbeln, fast schon zu blubbern, und schließlich bildete sich eine Frauengestalt mit bleicher, schimmernder Haut. Sie lächelte ihn ernst an und glitt in einem schwebenden Tanz neben ihm her. Die Bänder in ihrem Gewand und ihren Haare trieben hinter ihr her wie bei einem Unterwasserballett.
    Nick strengte sich an, ihr nicht in die Augen zu blicken, doch er hatte das Gefühl, keine andere Wahl zu haben. Als er sie schließlich ansah, erwies sie sich als die Schönheit selbst. Sie fing an, für ihn zu singen. Er verstand ihre Worte nicht, doch die Melodie erkannte er wieder. Es war ein Schlaflied, das Mütter ihren Kindern schon seit Jahrtausenden vorsangen. Das Lied versprach ihm Sicherheit und Wärme. Es versprach niemals endende Mutterliebe. Die Frau streckte die Arme aus und winkte ihn heran.
    Wenn er zu ihr ging, würde alles vorbei sein. Ein Teil von ihm wusste das, der Teil, der ihm von irgendwo tief aus seinem Innern zuschrie, dass er auf keinen Fall vom Weg abkommen durfte. Auch der andere Teil von ihm wusste es,

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