Der Kinderdieb
aber er hatte nichts dagegen. Es würde ein solch süßer Tod sein. Sie würde ihn in ihre liebenden Arme nehmen und ihn wiegen, ihn trösten. All seine Ängste, all das Schlechte würden für immer verblassen. Nick stellte fest, dass er sich nichts sehnlicher wünschte.
Von irgendwo aus der Ferne erklang Peters Stimme, kaum mehr als ein Echo. »Bleib bei mir!« Dann blitzte ein Gesicht, die entsetzte Miene des Jungen mit den
Nike
-Turnschuhen, vor Nicks innerem Auge auf. Er blinzelte und zwang sich, den Blick von der Frau abzuwenden.
Wo ist Peter?
Nick sah nur eine undeutliche Silhouette weiter vorne.
Ist er das? Wie konnte ich nur so weit zurückfallen?
Nebelschleier zogen sich wie Vorhänge vor ihm zu, als wollten sie eine Wand zwischen ihnen beiden errichten. Voller Panik rannte Nick los, stolperte über den weichen, wogenden Boden und stieß Peter fast um, als er ihn einholte.
»Halt durch«, flüsterte der Junge, »du machst das gut.«
Gut?
Nick hätte am liebsten geschrien.
Was mache ich gut? Was ist hier los? Was zum Teufel ist hier los?
Die Frau trieb weiter neben ihm her, doch nun war ihre Miene von Trauer erfüllt. Absurderweise empfand Nick Reue. Dann hob die Gestalt die Arme wie zu einem Ballettsprung über den Kopf, streckte den Rücken durch und schlängelte sich durch die dichten Nebelschwaden. Mit einem Mal erkannte Nick sehr deutlich, was für volle Brüste sie hatte. Er sah ihre großen, dunklen Brustwarzen durch den dünnen Stoff ihres Gewands und den tiefen Schatten zwischen ihren Beinen. Ein warmes, kribbelndes Gefühl erfüllte seinen Unterleib. Nick spürte, wie er errötete, und wandte den Blick ab, wobei ihm aus dem Augenwinkel etwas auffiel.
Ein Schwanz?
Er blinzelte. Die Gestalt hatte einen langen, schuppigen Schwanz. Außerdem hatte sie kleine, filigrane Schuppen an den Armen, und ihre Finger waren lange Klauen. Er kniff die Augen zusammen.
Lieber Himmel
, dachte er,
ihr Haar. Ihr Haar ist voller Würmer!
Nein, ihr Haar
bestand
aus Würmern, aus Tausenden von winzigen, wimmelnden Würmern.
Nick zuckte so heftig zurück, dass er beinahe zu Boden gefallen wäre.
Die Frau starrte ihn finster und wütend an. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, ihre Brustwarzen wurden zu langen Dornen, und in ihrem Bauch öffnete sich ein gähnendes Maul, in dem Nick Reihe um Reihe spitzer, kleiner Zähne erblickte!
Oh nein, oh nein, oh nein!
Aus dem Maul drang ein Geräusch, das wie tausend wütende Hornissen klang. Sie stürzte sich auf ihn.
Nick schrie und rollte sich am Boden zusammen, die Arme schützend über dem Kopf. Hilflos musste er zulassen, dass sie über ihn herfiel. Er sah, wie ihr riesiger Mund, in den er ohne Schwierigkeiten hineinpasste, ihn umfing.
So sterbe ich also
, dachte er, doch keine spitzen Zähne bohrten sich in sein Fleisch. Er spürte nur einen kalten Windhauch, als sie durch ihn hindurchfuhr. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass er noch am Leben war.
Peter! Wo ist Peter?
, dachte er und machte eine Gestalt aus, die sich von ihm entfernte. War das Peter oder nur ein weiterer Streich, den ihm der Nebel spielte?
»PETER!«, schrie er und kam taumelnd auf die Beine. Jetzt sah er drei Gestalten, und jede ging in eine andere Richtung. »PETER!«, kreischte er, und dann sagte ihm eine innere Stimme, die aus ungeahnten Tiefen kam:
Hör auf, deinen Atem zu verschwenden. Denk nach!
Nick hielt inne, konzentrierte sich und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen.
Fußspuren. Du musst seine Fußspuren finden.
Da waren sie, eine kaum wahrnehmbare Fährte, die sich rasch mit Feuchtigkeit füllte und verschwand. Nick biss die Zähne zusammen und rannte los. Und dann war Peter direkt vor ihm, keine Illusion, sondern der echte Peter.
»PETER!«, Nick rannte auf ihn zu und packte ihn an der Schulter. »WARTE AUF MICH!«, schrie er. »WARUM WARTEST DU NICHT AUF MICH?«
»Nicht zögern«, sagte Peter, ohne innezuhalten. »Sobald wir zögern, ist alles verloren.«
Nick griff nach Peters Jacke, grub die Hand in den Stoff und wünschte, er könnte all das verschwinden lassen, indem er einfach die Augen schloss.
Dann kamen sie, erst Dutzende, dann Hunderte, in allen Formen und Größen, und erfüllten den Nebel mit ihrem Kreischen, ihrem Gelächter und ihrem Wehklagen. Ein Schwarm abgetrennter Köpfe flog singend vorbei, ein Trupp nackter alter Frauen mit großen Hängebrüsten hielt sich an den Händen und tanzte einen fröhlichen Reigen, die zahnlosen Münder zu einem
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