Der Kinderdieb
breiten Grinsen geöffnet. Eine Schar kleiner Kinder mit Grashüpferleibern summte laut vor sich hin, allerlei gefräßig aussehende Monster mit scharfen Zähnen und Klauen schlichen lauernd neben ihnen her, und kleine, schattenhafte Männer mit hervorquellenden, leeren Augen und Vogelschädeln sprangen wild durch die Gegend.
»Was sind das für Wesen?«, fragte Nick mit zusammengebissenen Zähnen.
Was ist hier los?
Es war nicht lange her, dass er in Brooklyn Chinahuhn gegessen hatte. Wie konnte es sein, dass er nun inmitten dieser grausigen Gestalten durch den Nebel irrte?
So was gibt es doch gar nicht wirklich!
Er spürte ihre flüchtigen Nebelfinger im Haar, auf seinen Kleidern, an Mund und Augen.
Das Gesicht eines kleinen Mädchens schoss ihm entgegen. Ihre Augen waren nichts als schwarze Höhlen, und ihr Mund war in einem lautlosen Schrei erstarrt. Sie hing einfach nur da und starrte ihn an. Er wollte sie fortwedeln, doch jedes Mal, wenn er mit der Hand durch sie hindurchwischte, kicherte sie nur, kicherte mit diesem entsetzlichen Schrei auf den Lippen, kicherte, bis er fast wahnsinnig wurde.
»Oh Gott«, rief er.
Das schaffe ich nicht. Ich halt’s nicht länger aus.
Er musste wegrennen, ganz egal wohin, Hauptsache weg.
Wenn du rennst, wirst du sterben
, erklang die vertraute Stimme in ihm. Es war seine Stimme, ruhig und fest, sein inneres Selbst, der Junge, der mehr als genug schwere Zeiten durchgemacht hatte und trotzdem nicht daran zerbrochen war. Wie hatte er das geschafft? Wie war er damit klargekommen, Erde auf denSarg seines Vaters zu schaufeln? Wie war er damit klargekommen, jeden Abend zuzuhören, wie seine Mutter sich in den Schlaf weinte? Wie hatte er all den Ärger in der Schule ertragen – ständig aufgezogen und herumgeschubst zu werden, sich jeden Tag von Marko terrorisieren zu lassen? Er hatte sich einfach tief in sich selbst zurückgezogen und so getan, als würden all die schlimmen Dinge jemand anderem passieren, als wäre er nur ein Zuschauer. Auf diese Weise hatte er durchgehalten. Deshalb war zwar nicht alles in Ordnung – später spürte er den Schmerz trotzdem –, aber fürs Erste hielt er durch. Und im Moment musste er einfach nur durchhalten.
Also ging Nick an seinen sicheren Ort und betrachtete alles aus der Entfernung. Auf einmal war klar ersichtlich, dass all die Schrecken des Nebels ihm lediglich Angst einjagen, ihn verwirren, ihn vom Weg abbringen sollten.
Nick starrte durch den Nebel, richtete den Blick fest auf Peters Rücken, ließ ihn dort und ging weiter – schnell, ohne zu zögern.
Bald erstarben die Stimmen. Der Nebel hörte auf zu wallen und verfestigte sich wieder zu einem stillen, endlosen Grau. Kurz darauf roch Nick das Meer, spürte einen Lufthauch und hörte das Lecken der Wellen. Schließlich lichtete der Nebel sich, und Nick konnte ein dunkles Ufer unter dem sternenlosen Nachthimmel erkennen.
Nick sank auf die Knie und stützte sich mit beiden Händen auf den nassen Strand, grub die Finger in den Sand, um Halt zu finden. Er schnappte krampfhaft nach Luft, wie ein Apnoetaucher, der an die Oberfläche kommt, und bemühte sich, nicht loszuschreien, nicht an
sie
zu denken.
Was zum Teufel war das?
Er kniff die Augen fest zu, doch vor dem, was er gesehen hatte, konnte er sich nicht verstecken. »Was war das?«, fragte Nick mit leiser, rauer Stimme und schaute zu Peter auf.
Der grinste von einem Ohr zum anderen. »Das hast du großartig gemacht!«
Nick starrte Peter finster an. »WAS ZUM HENKER WAR DAS?«
»Der Nebel«, erwiderte Peter, als wäre es das Natürlichste auf der Welt.
Der Junge wartete auf eine genauere Erklärung, doch Peter stand einfach nur da, mit seinem blöden Grinsen im Gesicht.
Nick schaute über die Schulter zurück in den wogenden Nebel und fragte sich, ob er ihm folgen würde, um ihn zu holen. »Diese Dinger. Was waren das für Dinger? Was waren das für
Scheißdinger?
«
»Nebelgeister.«
»Nebelgeister?«
»Jau, die Sluagh.«
Nick begriff, dass dieses Gespräch zu nichts führen würde. Er stemmte sich hoch und ballte die Fäuste. Er wollte dem Jungen mit den spitzen Ohren eine reinhauen, wollte ihm das selbstgefällige Grinsen aus dem Gesicht schlagen. Nie zuvor in seinem Leben hatte er sich so sehr gewünscht, einen anderen Menschen zu verprügeln.
Peter trat einen Schritt zurück und musterte ihn verwirrt.
»DU HAST MICH REINGELEGT!«,
brüllte Nick. »Du Arschgeige! Du wusstest von diesem ganzen Mist und hast mir
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