Der Kinderdieb
Dame verriet keinerlei Regung. Mit gesenktem Kopf schlurfte sie Ochs hinterher. Hier, zwischen all dem Lärm, Glas, Stahl und den endlosen Betonmassen wirkte sie völlig fehl am Platz, zerbrechlich und verwundbar.
»Wir müssen etwas tun«, sagte Grille.
»Und was? Es gibt nichts, was wir beide tun könnten. Hör mal, das ist die Gelegenheit für uns, von hier zu verschwinden, bevor die Polizei alles umstellt.«
»Machst du Witze? Du willst wirklich einfach weglaufen?«
»Ich lasse mich nicht für sie umbringen. Nicht für dieses Geschöpf da. Auch nicht für Peter. Für keinen von denen.«
»Also lässt du sie im Stich? Einfach so? Genau wie deine Mutter?«
»Komm mir nicht wieder damit«, blaffte Nick. »Sie ist nicht meine Mutter. Ich schulde ihr nicht das Geringste.« Doch erwusste, dass das nicht ganz stimmte. Ohne die Dame wäre er längst tot, oder er wäre irgendein halbwahnsinniger Dämon, wie diese Fleischfresser. Sie hatte ihn gerettet. Sie hatte die Finsternis von ihm genommen, ganz egal, wie es zu alldem gekommen war.
Offenbar unter größter Kraftanstrengung hob die Dame den Kopf und richtete den Blick direkt auf Nick. Ihre Augen waren nun silbrig, alle Farbe war aus ihnen gewichen. Er spürte ihre Berührung tief im Innern und bildete sich ein zu hören, wie sie seinen Namen sprach, so leise wie ein Widerhall, als wären sie noch immer in den dunklen Wassern ihres Teichs. Einen Moment lang nahm Nick mit bloßem Auge die magische Aura wahr, die sie umgab und aus ihr hervorsickerte. Er sah die funkelnden Ranken und Fäden, die hinter ihr hertrieben, sah, wie sich hier und dort Magie versteckte, zwischen Metall und Beton, Müll und Asphalt hervorlugte. Wenn die Dame vorbeikam, blühte die Magie auf wie ein Garten nach dem ersten Frühlingsregen. Er spürte die Magie in sich selbst, um sich herum, spürte sie stärker als je zuvor und begriff, dass es selbst hier, in der Stadt, in der Menschenwelt, Magie
gab
, dass sie Teil des Gewebes der Welt war. Dass Magie ein zerbrechliches und bedrohtes Element war und dass sie ohne den Schutz von Geschöpfen wie der Dame verblassen und die Erde als dunkleren, kälteren Ort zurücklassen würde.
Ochs zerrte die Dame weiter, und sie fiel zu Boden. »Auf die Beine, Dämon!«, brüllte er und trat sie, woraufhin sie lang hingestreckt auf den Beton knallte.
Nick zuckte zusammen.
Ochs packte die Dame beim Schopf, riss sie hoch und stieß sie grob weiter. Nick sah, dass ihr frisches Blut über beide Knie strömte.
»Na schön«, sagte Nick.
»Wie?«
»Na schön. Wir folgen ihnen.«
Grille nickte.
»Aber nur für den Fall«, fügte Nick hinzu, »dass sich eine Gelegenheit ergibt. Dass wir etwas tun können. Du musst mir versprechen, dass du keine Dummheiten machst.«
Grille grinste. »Ich? Aber nie.«
Sie wurden von einem lauten Hupen unterbrochen. Der Prediger, gefolgt von seinen Schäfchen, überquerte gerade eine Kreuzung und ging die Straße entlang. Nick bemerkte die Kirche und begriff, dass sie die Dame dorthin bringen wollten. Er hatte mehrere Theorien, was sie dort mit ihr vorhatten, und keine davon war besonders schön.
Nick und Grille rannten geduckt hinter den Autos über den Parkplatz und setzten den Fleischfressern nach.
Da bemerkte Nick die blitzenden Lichter von Notarzt- und Streifenwagen weiter vorne auf der Straße.
Der Dame läuft die Zeit davon. Wo ist Peter? Wo zum Teufel ist er hin?
Ein dicht bewaldeter Park grenzte an die Straße, und Nick und Grille gingen hinter den Bäumen in Deckung. Im Schutz der Büsche schlichen sie neben den Fleischfressern her. Nick hatte keine Ahnung, was sie tun sollten oder konnten. Wahrscheinlich war es am besten, wenn sie einfach in der Nähe blieben und auf die nächstbeste Gelegenheit warteten.
Die Fleischfresser schwärmten auf dem Bürgersteig aus. Viele von ihnen wirkten abgelenkt und interessierten sich offenbar mehr für diesen seltsamen neuen Ort als für die Tiraden ihres Predigers.
Nick und Grille erreichten einen langen, rechteckigen Teich mit einem kleinen Springbrunnen in der Mitte. Zwischen den Hecken am anderen Ende des Teichs, nah bei der Straße, waren sie gut geschützt. Sie duckten sich hinter die Sträucher und wagten sich so dicht wie möglich an die Straße.
Der Prediger trat mitten auf die Fahrspur und ging auf dieEingangstreppe der Kirche zu. Mehrere Männer folgten ihm, darunter Ochs, der noch immer Danny und die Dame im Schlepptau hatte. Lautes Gehupe ertönte. Reifen
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