Der Kinderdieb
Wurzelgeflecht in die Schatten. Irgendwo hinter ihnen erklang ein weiteres Brüllen.
»Barghests«,
flüsterte Peter und zog sein langes Messer.
Barghests?
, dachte Nick.
Na toll, großartig. Erst Fleischfresser und jetzt Barghests. Was zum Henker ist ein Barghest?
Auf einer Lichtung, keine zwanzig Meter entfernt, konnte Nick ein Paar orangefarbene, leuchtende Augen erkennen. Eine dunkle, etwa wolfsgroße Gestalt schlich geduckt aus den Schatten. Erst ging das Wesen auf allen vieren, dann stellte es sich auf die Hinterbeine und schnüffelte. Hinter ihnen hörten die beiden das Klatschen von Füßen im Schlamm. Das Geräusch näherte sich beständig. Nick gestattete sich einen vorsichtigen Blick über die Schulter und entdeckte ein weiteres Paar Augen, das sich auf sie zubewegte. Instinktiv verkroch er sich tiefer im Wurzelwerk und unterdrückte mit zusammengebissenen Zähnen den Drang, aufzuspringen und loszurennen. Die dunkle Gestalt huschte so dicht an ihnen vorbei, dass Nick die Hand hätte ausstrecken und sie berühren können, dass er sie roch – ein modriger Geruch wie von einem alten, nassen Teppich.
Das Wesen gesellte sich zu seinem Artgenossen auf der Lichtung, und kurz darauf traf eine dritte Wolfsgestalt ein. Nacheinanderwandten sie die Köpfe und spähten mit orange glühenden Augen zu Nick herüber. Kalter Schlamm quoll zwischen seinen Fingern hervor, als er die Hände in die nasse Erde grub. Er traute sich nicht einmal zu blinzeln.
Von irgendwo aus der Ferne schallte erneut ein Heulen durch den Sumpf, das diesmal beinahe menschlich klang. Die drei Wesen auf der Lichtung hoben die Köpfe und antworteten. Ihr Heulen ging Nick durch Mark und Bein. Er versuchte verzweifelt, seinen Atem zu beruhigen. Er wollte mit jeder Faser seines Körpers fortlaufen, wollte so weit wie möglich weg von diesem Heulen. Dann spürte er Peters Hand auf seiner Schulter – ruhig und kraftvoll.
Schließlich trollten sich die drei schattenhaften Gestalten.
Peter wartete sehr lange, bevor sie schließlich aufstanden und weiter dem Weg folgten.
Als Peter das Gluckern des Goggiebachs hörte, stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus. Bis hierher würden ihnen die Fleischfresser niemals folgen.
Er kauerte sich ans Ufer und streckte die Hände ins schnell dahinströmende Wasser. »Dieses Wasser hier kann man gefahrlos trinken«, erklärte er und nahm ein paar große Schlucke. Dann spritzte er sich Wasser ins Gesicht, froh, sich endlich die Spuren der Stadt abwaschen zu können. Er hasste die Stadt, hasste den Beton, den Lärm, den Gestank von Abgasen und Müll, doch am meisten hasste er, dass die Stadt voller Menschlinge war – Menschlinge mit all ihrer Grausamkeit und Grobschlächtigkeit.
Er warf einen Blick in Nicks Richtung. Der Junge hielt sich ziemlich gut. Im Nebel hatte er sich ordentlich geschlagen. Peter war bereits davon ausgegangen, ihn verloren zu haben, als ihn Nick ganz allein wiedergefunden hatte. Peter konnte sich nicht erinnern, dass das schon mal einem anderen Kind gelungenwar. Dieser Junge hatte Mumm, er hatte Potenzial.
Genau die Sorte Kind, nach der die Teufel suchen
, dachte Peter.
Der hier macht es vielleicht ein Weilchen.
Peter sah seinem Begleiter beim Trinken zu. Sie hatten eine lange Nacht hinter sich, und Nick sah erschöpft aus, erledigt.
Gut
, dachte Peter,
wenn er tief und fest schläft, macht das die Sache nur einfacher
.
»Etwas weiter gibt es einen guten Rastplatz«, erklärte er.
Nick antwortete mit einem Nicken, und sie gingen weiter.
Sie legten sich zwischen ein paar Felsbrocken auf ein behelfsmäßiges Strohlager.
Peter schaute in den bewölkten Himmel. »Ich vermisse die Sterne.«
Nick gähnte. »Vielleicht verziehen sich die Wolken ja bald.«
»Nein«, erwiderte Peter. »Der Nebel ist ewig. Die Dame schützt Avalon, doch der Preis dafür sind unser geliebter Mond und die Sterne.«
»Avalon?«, fragte Nick. »Ich dachte, das ist irgendwo in England.«
»Das war es einmal.«
»Wie meinst du das?«
»Ach, du wirst schon sehen.«
»Ja, in Ordnung«, brummte Nick und schloss die Augen.
Peter beobachtete den Jungen, bis er sich sicher war, dass er tief und fest schlief. Dann schlüpfte er leise zwischen den Felsbrocken hervor. Unter ihnen, am Fuß des Abhangs, wuchs ein riesiger Baum. Durch sein knorriges Geäst schlängelte sich ein einziger grauer Rauchfaden. In seinem Stamm befand sich eine solide, runde Tür, aus der dicke Eisendornen ragten. Über der Tür
Weitere Kostenlose Bücher