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Der Kinderdieb

Titel: Der Kinderdieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brom
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legte den Kopf in den Nacken und heulte. Es war ein urtümlicher Laut, den die Menschheit seit tausend Jahren nicht gehört hatte, einer, der die Leute daran erinnerte, warum sie den tiefen, dunklen Wald fürchteten.
    Ich brauche keine Banner, Titel, Kronen, Zauberschwerter oder vergoldeten Thronsäle. Ich werde mich niemals mit einer einzigen Welt zufriedengeben. Mein Reich ist überall dort, wo stürmische Winde wehen
.
    »Ich bin der Gehörnte«, rief Peter. »Der Waldgeist, der Herr über alles, was wild und ungezähmt ist.«
    Er kramte in seiner Tasche, zog einen von Avallachs Äpfeln hervor und betrachtete ihn ausgiebig. Es war eine gesegnete Frucht von erstaunlicher Schönheit – das hochverehrte Zeichen Avalons. Peter biss hinein. »Lecker.« Laut schmatzend machte er sich auf den Weg, um ein Haus zu suchen – nicht irgendein Haus, sondern ein blaues in der Carrol Street. Seine goldenen Augen funkelten, und er legte die Hand an den Griff seines Messers. Er freute sich schon darauf, Marko und seine Kumpel kennenzulernen. Er würde viel Spaß mit ihnen haben – sie würden sich prächtig amüsieren, denn es war schon
so
lange her, dass er sich prächtig amüsiert hatte.
    Er spürte, wie er auf einmal unbeschwerter ausschritt. Ihm kam der Sonnenvogel in den Sinn, der so frei und ungezähmt gewesen war, der hinflog, wo immer es ihm gefiel, wann immer er wollte. So fühlte sich auch Peter, als könnte er überall hingehen, alles tun, fast als könnte er fliegen.
    Er sah zu den Sternen hinauf, und ein verschlagenes Lächeln ließ sein Gesicht erstrahlen. »Zeit für ein Spielchen«, flüsterte er und blinzelte ihnen zu.
    Die Sterne blinzelten zurück, weil Peters Lächeln einfach unglaublich ansteckend war.

Nachbemerkung des Autors oder: Ein Lobgesang auf Peter Pan
     
    Wie so viele vor mir fasziniert mich die Geschichte von Peter Pan sehr, die romantische Idee einer niemals endenden Kindheit auf dem magischen Spielplatz von Nimmerland. Doch wie so viele andere hatte ich ein Bild von Peter Pan im Kopf, das ihn als liebenswerten, koboldhaften Scherzbold zeigte, was dem unguten Einfluss zu vieler Disney-Filme und Werbespots für Erdnussbutter geschuldet ist. Jedenfalls so lange, bis ich den ursprünglichen
Peter Pan
las, nicht die entschärfte Fassung, die man heutzutage in vielen Kinderbuchabteilungen findet, sondern das nicht bereinigte Original von James Barrie. Da bemerkte ich die dunklen Untertöne und lernte zu schätzen, was für eine wunderbar gefährliche und zuweilen auch grausame Gestalt Peter Pan eigentlich ist.
     
    Schon allein die Vorstellung von einem unsterblichen Jungen, der an Kinderzimmerfenstern herumhängt, Kinder von ihren Familien weglockt, um sein Ego zu bauchpinseln und sie gegen seine Feinde kämpfen zu lassen, ist – wenn man einmal darüber nachdenkt –
verstörend
. Allerdings ist das zumindest halbwegs verständlich, wenn man »Der kleine weiße Vogel« liest (die Geschichte, in der Peter Pan zum ersten Mal auftaucht) und erfährt, dass er als Säugling aus seinem eigenen Kinderzimmer abgehauen ist, um mit den Feen im Park zu spielen, und bei seiner Rückkehr das Fenster verschlossen vorfand und feststellen musste, dass seine Mutter einen anderen kleinen Jungen stillte. So eine traumatische Erfahrung würde wohl bei jedem gewisse Spuren hinterlassen. Solcherart zurückgewiesen, kehrt Peter Pan in die Feenwelt zurück und kommt offenbar zu demSchluss, dass es mit ein paar Spielgefährten viel lustiger wäre. Und weil er sich nicht lange mit Nettigkeiten aufhält, entführt er sich einfach welche.
    Aber was wird danach aus diesen Kindern? Hier ein Zitat aus dem Originalbuch:
»Die Anzahl der Jungen auf der Insel variiert natürlich, je nachdem, wie viele getötet werden und derlei. Und wenn sie den Eindruck machen, dass sie erwachsen werden, was gegen die Regeln verstößt, jätet Peter sie aus. Aber derzeit waren es sechs, wenn man die Zwillinge als zwei zählte.«
    Er
»jätet sie aus«
? Wie bitte? Was soll das heißen? Tötet Peter sie, wie wenn man eine Herde ausdünnt? Schickt er sie irgendwohin? Wenn ja, wohin? Oder bringt er sie einfach in tödliche Gefahr, sodass er seine Vorräte immer wieder aufstocken muss?
    Dieser eine Absatz sollte mein Bild von Peter Pan nachhaltig verändern. Er war nun kein übermütiger Lausbub mehr, sondern eine deutlich zwielichtigere Gestalt. Er »
jätet sie aus
« – ich bekam den Satz einfach nicht mehr aus meinem Kopf. Wie viele Kinder

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