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Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)

Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harvey
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sich herum und sah sie an. »Das war doch klar. Hast du etwas anderes erwartet?«
    Als Lorraine erwachte, sah sie auf die Uhr neben dem Bett. Drei Uhr achtundzwanzig. Zuerst glaubte sie, Michael hätte sie gestört oder sie müsste pinkeln. Als sie feststellte, dass keines von beidem zutraf, schwang sie die Beine aus dem Bett und tastete auf dem Boden nach ihren Hausschuhen. Ihr Morgenrock hing an der Schlafzimmertür.
    Emily lag verkehrt herum im Bett, ein Bein hing über die Kante, das andere war unter dem Kopfkissen ausgestreckt. Ihr Kopf stieß an das hölzerne Fußbrett, das kastanienbraune Haar umgab wirr ihr Gesicht, das Nachthemd war ihr mit der zusammengeknüllten Decke bis zur Taille hochgerutscht. Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, zog Lorraine es ihr über die Beine hinunter.
    Seit Michael eine Stellung in einer Firma hatte annehmen müssen, die beinahe zwei Stunden Fahrzeit entfernt war, kam er häufig erst nach Hause, wenn seine Tochter schon im Bett war; er sah sie im Allgemeinen nur an den Wochenendenund morgens eine Dreiviertelstunde. Von der Schule holte Lorraine sie ab, machte ihr das Essen, hörte ihr zu, wenn sie etwas zu erzählen hatte, und sagte: »Oh, das ist aber schön«, wenn Emily ihr zeigte, was sie gemalt hatte – gewaltige rote und violette Kleckse auf grauem Papier, das später an die Kühlschranktür geklebt wurde.
    Häufiger als Michael brachte jetzt Lorraine das Kind zu Diana, ihrer Mutter, Michaels erster Frau; wenn Lorraine sie dann sieben Stunden später wieder abholte, versuchte sie, das Gesicht der älteren Frau, ihre geröteten Augen und die Tränen zu ignorieren.
    Lorraine hätte nicht sagen können, wie lange sie da im Halbdunkel stand und zu ihrer Stieftochter hinunterblickte, während Bilder, die die Nachrichtenmeldung heraufbeschworen hatte, ihre Fantasie bewegten.

11
    Patel war noch keine Stunde draußen: ein grauer, mittelmäßiger Tag Ende des Jahres, der nichts versprach, außer dass er irgendwann enden würde. Da spuckte ihm jemand ins Gesicht.
    Er war gerade unterwegs zum stellvertretenden Filialleiter einer Bausparkasse an der Ecke Lister Gate und Lower Pavement, den er wegen eines kürzlich erfolgten Überfalls befragen sollte, und überlegte, ob er sich bei dieser Gelegenheit nicht gleich nach einem Darlehen erkundigen sollte, das es ihm erlauben würde, in eine bessere Gegend zu ziehen, wo man ruhiger wohnte und weder Ungeziefer noch dubiose Abflussrohre fürchten musste.
    Nachdem er die Teilzeitmarktforscher, die bei Marks & Spencer mit Klemmbrett und Teilzeitlächeln hoffnungsvoll herumlungerten, mit einem höflichen Kopfschütteln abgewimmelthatte, blieb er kurz stehen, um sich das Gemälde anzusehen, das ein junger Mann mit Kreide aufs Pflaster gemalt hatte: die Reproduktion einer Renaissance-Madonna mit Kind. Ein Stück weiter, nahe der Kreuzung, bewegte sich ein muskulöser schwarzer Pantomime in Turnhemd und Jogginghose in Zeitlupe zu einer Musik, die, soweit Patel bekannt war, als Electro-Funk bezeichnet wurde. Eine beachtliche Menschenmenge hatte sich in lockerem Kreis um ihn geschart, größtenteils bewundernd. Patel ging außen herum, ließ sich Zeit. Die Uhr oben am Rathaus hatte erst vor Kurzem die Viertelstunde geschlagen, und sein Termin war um halb. Er kramte in der Hosentasche nach einer Münze, um sie dem Künstler in den Hut zu werfen, als ein blauer Lieferwagen mit einigem Tempo von der Lower Pavement herunterkam und vor der Querstraße, die zur Fußgängerzone gehörte, scharf bremsen musste, um den Zusammenstoß mit einem Kinderwagen zu vermeiden.
    Die Frau, um die dreißig, mit schwarzer Lycrahose, Webpelzmantel und Zigarette in der Hand, riss den Kinderwagen mit einem Ruck herum. Mit dem Hinterrad höchstens dreißig Zentimeter vom Kotflügel des Lieferwagens entfernt, kam er zum Stehen.
    »Idiot!«, schrie sie. »Was soll das? Du darfst hier überhaupt nicht fahren. Jedenfalls nicht so, du beschissener Blödmann.«
    »Lady …«, versuchte der Fahrer hinter dem halb geöffneten Fenster sie zu besänftigen.
    »Scheiße! Du hättest uns beinahe zusammengefahren, verdammt noch mal. Mich und den Kinderwagen.«
    »Hey, Schätzchen …«
    »Wenn ich nicht die Augen offen gehalten hätte, wärst du glatt über den Wagen drübergerauscht. Was meinst du wohl, was dann passiert wäre?«
    »Ehrlich …«
    »Im Knast wärst du gelandet. Wegen fahrlässiger Tötung.«
    »Jetzt hören Sie doch mal …«
    »Hör lieber selber mal, du

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