Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)
Möglichkeit bestand, vor der Sperrstunde noch ein oder zwei Bier zu trinken.
Patel war schlecht zu verstehen, die Verbindung miserabel, aber das Wesentliche war klar. Soweit die Nachbarn überhaupt etwas wussten, fuhr Diana an den Wochenenden immer nach Yorkshire, wohin genau allerdings, war strittig. Es gab zwei Stimmen für Hebden Bridge, eine für Huddersfield, eine für Heptonstall und eine recht unsichere für Halifax. Wenigstens auf das H war Verlass. Diana hatte zu der Frau zwei Häuser weiter, die man von all den Nachbarinnen vielleicht am ehesten als Freundin bezeichnen konnte, etwas davon gesagt, dass sie sich an diesen Wochenenden mit jemandem treffe.
»Und wohnt sie bei ihm?«
»Oh, das weiß ich wirklich nicht. Sie hat’s mir nicht erzählt, und ich finde, mir steht’s nicht zu, danach zu fragen. Aber Sie wissen ja, was man sagt: Natur lässt sich biegen, aber nicht brechen.«
»Sie haben diesen Mann nie gesehen? Er hat sie nie hier besucht?«
»Soviel ich weiß, nicht.«
»Und seinen Namen, hat sie den nicht einmal erwähnt?«
»Nein, tut mir leid, junger Mann.«
»Fahren Sie nach Hause«, sagte Resnick. »Schlafen Sie ein paar Stunden, und fahren Sie morgen in aller Früh wieder da raus. Wenn sie nicht kommt, rufen wir die Kollegen in Yorkshire an, vielleicht können die sie aufstöbern.«
Patels Stimme verschwand hinter einer Wand aus Rauschen und Knistern, und Resnick machte sich auf die Suche nach einer Straßenkarte. Als er noch Sergeant gewesen war und Skelton Inspector, hatte er sich zu einer zweitägigen Wanderung auf dem Penninen-Weg überreden lassen. Außer an die Blasen an den Füßen erinnerte er sich daran, dass Hebden Bridge und Heptonstall nahe beieinanderlagen. War nicht das eine unten im Tal und das andere oben auf einem Berg? Wenn er da noch einmal hinaufmusste,dann nur mit dem Auto, ohne Wanderstiefel, ohne Rucksack.
Der Polizeireporter der Lokalzeitung klopfte kurz vor zehn bei den Morrisons an. Er sah aus wie ein seriöser Mann mit seiner ernsten Miene und seinem braunen Anzug und hatte Michael schnell davon überzeugt, dass die Berichterstattung seiner Zeitung über Emilys Verschwinden nur hilfreich sein könne.
Er nahm Platz, trank Tee und gab Geräusche plumper Anteilnahme von sich, während er sich Notizen machte. Lorraine – »mit rot geweinten Augen und tief besorgt« – sagte wenig, Michael jedoch – »offensichtlich erschüttert, aber entschlossen, die Hoffnung nicht aufzugeben« – sprach bereitwillig über seine niedliche kleine Tochter und zeigte dem Journalisten Fotos aus dem Familienalbum – »ein glückliches Kind mit wunderschönem roten Haar«.
Nachdem er sich die Erlaubnis geholt hatte, am folgenden Morgen mit einem Fotografen wiederzukommen, hatte es der Reporter eilig zu gehen, um seine Story für die Morgenausgabe fertig zu machen. Unterwegs rief er über das Autotelefon einen Kollegen von der Nachrichtenredaktion des lokalen Rundfunksenders an, eine Gefälligkeit, die sich verzinsen würde wie Geld auf der Bank.
So kam es, dass die erste Sendung über Emily Morrisons Verschwinden schon abends um elf als zweiter Aufmacher ausgestrahlt wurde, eingequetscht zwischen Gerüchten über eine Leitzinserhöhung von einem halben Prozent und einen beinahe tödlichen Unfall auf einem Golfplatz während eines Gewitters.
Resnick hörte die Meldung auf der Heimfahrt und fragte sich, ob die Morrisons auch nur im Geringsten auf das Medieninteresse vorbereitet waren, das das Verschwindenihrer Tochter unweigerlich auf sich ziehen würde. Umso mehr, als erst vor so kurzer Zeit der Leichnam eines anderen Mädchens fast gleichen Alters gefunden worden war. Eines Mädchens, das im selben Teil der Stadt gewohnt hatte, keine anderthalb Kilometer entfernt.
19
Resnick erwachte von Vogelgeräuschen vor dem Haus. Nur dass es keine Vögel waren, sondern Töne, grau wie Sperlinge im ersten Licht: leise, aber durchdringende Klänge. Sanfter Flügelschlag auf flachem Wasser, verhaltenes Streichen über angestaubte Becken. Fragmenthaft. Molltöne, die schiefwinklig in die Nacht fielen.
Er setzte sich auf die Bettkante, und während er lauschte, wunderte er sich über die unregelmäßigen Rhythmen des Herzens. Jemand hatte Gloria Summers knochensplitternde Gewalt angetan.
Er hatte einmal ein Vogelskelett im Haus gefunden: weiß und glatt und perfekt, mit vollendet aufeinander abgestimmten, vollendet ineinandergreifenden, durchscheinenden Knochen, die in seinen Händen
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