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Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)

Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harvey
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kannte sie gut genug: zwei Stockwerke, alleinstehend, jedes mit eigener Garage und Garten hinten und vorn, auf dem Rasen vor dem Haus meistens ein Kirschbaum oder etwas Ähnliches mit zarten Blütenblättern, violett oder rosarot, die auf die geschwungene Straße hinausschwebten. Einfamilienhäuser, vor zwanzig, fünfundzwanzig Jahren gebaut. Resnick fuhr manchmal hier vorbei, wenn er die Straße als Schleichweg benutzte, und fand jedes Mal, sie sehe aus wie eine Filmkulisse. Hollywood der Fünfzigerjahre: der knorrige Vater, der ständig auf seiner Tabakspfeife kaute; die tüchtige Mom mit Mehl auf der Schürze und stets einem guten Rat bei der Hand; die Tochter mit einer Schwäche für Hunde, behinderte Kinder und den Hauptdarsteller, der ein ziemlicher Taugenichts war, aber rechtzeitig die Kurve kratzte, um vor den Traualtartreten zu können. Wenn Resnick sich doch nur ihre Namen merken könnte, er kannte sie sicher: rundes Gesicht, blonde Haare, markante Stimme, die sie wahrscheinlich in der Zeit entwickelt hatte, als sie als unbekannte Sängerin irgendeiner unbekannten Band links auf der Bühne neben dem Klavier saß und geduldig wartete, bis sie zum Mikrofon gerufen wurde. Dinah? Dolores? Wie hieß sie nur?
    Michael Morrison führte die junge Frau aus der Küche zu ihnen. »Das ist meine Frau Lorraine.«
    Resnick schätzte sie auf Anfang zwanzig, aber vom vielen Weinen sah sie fast kindlich aus, deutlich jünger jedenfalls.
    Er stellte erst Lynn Kellogg vor, dann sich selbst, und schlug vor, sich zu setzen, sie müssten ihnen ein paar Fragen stellen.
    Mit Michael Morrisons Genehmigung führten die uniformierten Beamten bereits eine gründliche Durchsuchung des Hauses und des Grundstücks durch. In einem anderen Teil des Landes hatten vor Kurzem Polizeibeamte, die nach einem entführten Vierjährigen fahndeten, ein Wohnheim durchsucht und auch das Zimmer überprüft, in dem er festgehalten wurde, waren jedoch mit leeren Händen wieder gefahren, weil sie in dem Schrank, in dem er versteckt war, gar nicht nachgesehen hatten.
    »Ich verstehe nicht, was das soll«, sagte Lorraine. »Sie ist nicht hier.«
    »Wir müssen alles überprüfen, Mrs Morrison«, erklärte Resnick.
    »Sie müssen es überprüfen, Lorraine«, erklärte Michael.
    »Vielleicht fangen wir mit der Frage an«, schlug Resnick vor, »wann Sie sie das letzte Mal gesehen haben.«
    »Emily«, sagte Lorraine, während sie eine Haarsträhne um ihren Finger wickelte.
    Resnick nickte.
    »Sie hat einen Namen.«
    Ja, dachte Resnick, sie haben immer einen Namen. Gloria. Emily.
    »Meine Frau ist ziemlich aufgelöst«, sagte Michael. Er berührte ihren Arm, und sie starrte seine Hand an wie etwas Fremdes.
    Resnick und Lynn tauschten einen Blick. »Wann haben Sie Emily zuletzt gesehen?«, fragte Resnick.
    »Das war Lorraine«, sagte Michael. »Richtig, Liebes?«
    Lorraine nickte. »Vom Schlafzimmerfenster aus.«
    »Und wo war sie da? Emily, meine ich.«
    »Im Garten. Sie hat gespielt.«
    »Vor dem Haus?«
    Michael schüttelte den Kopf. »Hinten. Unser Schlafzimmer liegt nach hinten raus.«
    »Und um welche Zeit war das?«
    Michael sah Lorraine an, die immer noch mit ihren Haaren spielte und zu Boden blickte. Über ihnen polterten schwere Schritte. »Drei, halb vier.«
    »Genauer können Sie es nicht sagen?«
    »Nein, ich …«
    »Fünf nach drei«, sagte Lorraine unversehens scharf.
    »Sind Sie sicher?«
    »Hören Sie.« Lorraine sprang plötzlich auf. »Es war drei Uhr, als Michael fragte, ob wir uns nicht eine Weile hinlegen wollten. Ich weiß das, weil ich auf die Uhr geschaut habe. Ich bin gleich rauf ins Bad, dann ins Schlafzimmer, und da habe ich nach Emily gesehen. Das waren fünf Minuten. Vielleicht sechs. Oder sieben. Was spielt das schon für eine Rolle?«
    Michael versuchte, sie festzuhalten, als sie aus dem Zimmer rannte.
    »Tut mir leid«, sagte er.
    »Das macht doch nichts«, versetzte Resnick. »Das ist verständlich.«
    Lynn Kellogg warf Resnick einen Blick zu, und als der nickte, ging sie Lorraine suchen.
    »Wir brauchen eine detaillierte Beschreibung«, sagte Resnick, »ein Foto, ein neueres, möglichst eine Porträtaufnahme. Je früher wir das in Umlauf bringen, desto besser. Eine Aufstellung von Emilys Freunden, vor allem von denen, mit denen sie am liebsten spielte, die sie am ehesten besuchen würde. Eine Liste der Verwandten – wir wissen von ihrer Mutter, ein Beamter ist bereits dort und wartet auf ihre Rückkehr. Alles, was Ihrer

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