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Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)

Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harvey
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erschüttert von dem, was geschehen war, aber helfen konnten sie kaum; einige schienen sogar genervt von den eilig geführtenGesprächen in den Schultoiletten, wo es schwach nach Urin roch und sie ständig unterbrochen wurden: Miss! Miss! Miss! Sir! Sir! Sir!
    Emily hatte gleich zwei Klassenlehrerinnen, was sicher nicht ideal war, wie die Rektorin erklärte, aber am Mutterschaftsurlaub war von Gesetzes wegen nicht zu rütteln, egal, wie groß seine Nachteile waren. An diesem Morgen also sprach Naylor mit einer Referendarin, die Akne hatte und eine Stimme, die zum Singen im Chor und zum Vorlesen in der Bücherecke wie geschaffen war. Sie konnte nichts Erhellendes zu Emilys Verschwinden sagen – ein freundliches, intelligentes kleines Mädchen, das, wie sie meinte, sicher nicht freiwillig einem Fremden folgen würde. Nein, ihr war weder vor der Schule noch in Emilys Nähe eine fremde Person aufgefallen, sie hatte nur die Mutter gesehen – damit meinte sie Lorraine. Wenn Diana am Schultor gewartet hatte, war sie nicht bemerkt worden. Naylor dankte der jungen Frau und vereinbarte, dass er am folgenden Nachmittag noch einmal vorbeikommen würde, um mit der anderen Aushilfslehrerin zu sprechen, die nach der Mittagspause einsprang.
    In der Hoffnung, dass der jüngste Vorfall schlafende Erinnerungen wach gerüttelt hatte, fuhr er das kurze Stück zu Gloria Summers’ Schule, dort im Schatten der Hochhäuser, wo sie ihr kurzes Leben gelebt hatte. Aber vergebens.
    Um halb vier war Naylor fix und fertig und glaubte, endlich zu wissen, warum so viele Lehrer aussahen wie Marathonläufer, die als Letzte einliefen. Mehr als an allem anderen musste es an den Kindern liegen, schon an ihrer Zahl, an dem Höllenlärm, den sie veranstalten konnten, wenn sie über den Spielplatz rannten, an den Geräten herumturnten oder mit zurückgeworfenen Köpfen und weit aufgerissenen Mündern im Schneidersitz vor dem Klavier saßen. Noch etwas fiel Naylor auf: Wenn es unter zwanzigasiatischen oder schwarzen Gesichtern – in Glorias Schule sogar unter dreißig – ein weißes gab, war es eine Überraschung.
    Er verbot sich den Gedanken, dass das nicht in Ordnung war, dachte an einen Film, der in den Staaten spielte, im Süden, ›Mississippi Burning – Die Wurzel des Hasses‹. Der rassistische Deputy Sheriff, der das schwarze Kind in den Armen seiner Frau mustert, das Kind ihres Dienstmädchens. Unglaublich eigentlich, sagt er, dass sie so niedlich aussehen können, wenn sie klein sind, und dann solche Tiere werden. Naylor wusste, dass er selbst nicht so dachte. Tiere, nein. Aber unter seinen Kollegen gab es welche, die so dachten. Trotzdem fragte er sich, als er das einstöckige Gebäude mit den Schildern in Englisch und Urdu verließ und zum Tor ging, wo die Mütter in bunten Saris auf ihre Kinder warteten, würde er seine Tochter tatsächlich auf eine solche Schule schicken wollen? Damit sie dann das einzige weiße kleine Mädchen in der Klasse wäre? Er konnte einfach nicht einsehen, dass das in Ordnung sein sollte.
    Aber wenn es mit Debbie und ihm so weiterging wie bisher, würde er dazu sowieso nicht gefragt werden. Als er in den Wagen stieg, beschloss er, Debbie anzurufen, sobald er seinen Bericht fertig hatte. Und wenn ihre Mutter, dieser Drache, ans Telefon ging, würde er sich nicht abwimmeln lassen.
    »Du meinst, sie ist lesbisch«, sagte Alison lachend.
    Patel antwortete mit einer verlegenen Handbewegung. »Möglich.«
    »Na ja, nach allem, was sie gesagt hat. Und wenn diese Diana da jedes Wochenende rauffährt, ist doch klar, dass zwischen den beiden etwas läuft.«
    »Vielleicht …«, begann Patel.
    »Ja?« Alison lachte ihm über ihr Glas hinweg ein wenigspöttisch zu. Sie saßen in der Penthouse-Bar des »Royal Hotel«. Wie hatte Patel so schön gesagt? Pro Stockwerk kamen zehn Pence extra aufs Bier.
    »Vielleicht sind sie einfach gute Freunde.«
    »Wie wir?«
    »O nein. So gute Freunde sind wir noch nicht.«
    »Und werden es vielleicht auch nie werden.«
    »Ach?«
    »Vielleicht bin ich ja auch lesbisch.«
    »Das glaube ich nicht.«
    »Woher willst du das denn wissen?«
    Patel lächelte und trank von seinem Lager. Er dachte daran, wie sie ihn geküsst hatte, kaum dass sie im Aufzug waren. Sie hatte nicht einmal gewartet, bis sich die Tür geschlossen hatte.
    »Was ist denn heute Abend mit dir los?«
    Raymond scharrte mit seinen Turnschuhen an der Bordsteinkante entlang. »Nichts.«
    »Na, also irgendwas ist doch. Du hast den

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