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Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)

Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harvey
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aus den Alben von unten verstreut: Michael im Kreis seiner zerrissenen Familie. Der ersten Familie. Er schaute nicht zu Resnick hinauf, saß nur da, eine beinahe zur Hälfte geleerte Flasche Whisky fest zwischen die Knie geklemmt.
    »Michael.«
    Erst da hob er kurz den Blick. In der linken Hand hielt er eine Puppe in einem gelb-rot gestreiften Kleid mit einem runden, flachen Gesicht und strohigem Haar.
    »Michael.«
    In der anderen Hand hatte er ein Messer. Mit gezahnter Klinge, von der Art, wie man sie zum Brotschneiden benutzte.
    Resnick beugte sich zu ihm hinunter, sorgfältig darauf bedacht, ihn nicht zu erschrecken, keine Aufmerksamkeit auf seine Hände zu ziehen.
    »Es ist meine Schuld«, sagte Michael Morrison.
    »Nein.« Resnick schüttelte den Kopf.
    »Meine Schuld.«
    »Nein.«
    Resnick bemerkte die plötzliche Spannung in Michael Morrisons Blick und griff nach dem Messer, aber zu spät. Die Spitze der Klinge sauste auf die Puppe zu, verfehlte sie und stach tief in Morrisons Oberschenkel.
    Ein heftiges Luftholen, wie ein Seufzen: dann ein Ausruf, der sich zum Schrei zuspitzte.
    »Um Gottes willen!« Resnick hatte die Worte noch nicht zu Ende gesprochen, da zog Morrison das Messer schon wieder heraus und ließ es zu Boden fallen.
    Resnick ergriff es und stieß es über den dünnen Teppich weg, außer Reichweite. Blut quoll erstaunlich hell aus dem Riss in Michael Morrisons Hose.
    Resnick riss das Fenster auf. »Einen Krankenwagen«, brüllte er. »Schnell.« Dann zerrte er hastig die Decken vom Bett, auf der Suche nach einem Laken, um die Wunde abzubinden.

24
    »Danke.« Lorraines Stimme war kaum lauter als ein Flüstern.
    Wie sie da inmitten eilender Pfleger und Schwestern im Krankenhausflur stand, sah sie mehr wie eine Tochter als wie eine Ehefrau aus. Alle Schminke hatte sie sich längst aus dem Gesicht geweint. Ihre Hände flatterten wie Falter um ihren Körper, keinen Augenblick still.
    »Ich habe nichts getan«, sagte Resnick.
    »Der Arzt hat gesagt, ohne Sie hätte Michael viel mehr Blut verloren.«
    Resnick nickte. Die Wunde war keine fünf Zentimeter tief gewesen, ein erstaunlich sauberer Stich. Es schien kaum Grund zu geben, Morrison über Nacht im Krankenhaus zu behalten.
    »Kommen Sie«, sagte Resnick. »Ich bringe Sie nach Hause.«
    »Ich kann jetzt nicht nach Hause fahren.« Fliegende Hände. »Nicht ohne Michael.«
    »Michael schläft. Wenn er aufwacht, untersuchen sie ihn noch einmal und rufen Sie an.«
    »Trotzdem.«
    »Sie können hier nichts tun. Und Sie müssen sich selbst ein bisschen Ruhe gönnen, damit Sie ihm eine Hilfe sein können, wenn er heimkommt.«
    Er merkte, dass sie gern widersprochen hätte, aber ihr fehlte die Kraft. Erst die Entführung ihrer Stieftochter, jetzt die Verwundung ihres Mannes, die er sich selbst zugefügt hatte. Wenn sie länger hier herumstand, würde sie ihm am Ende noch umkippen und Resnick würde schnell reagieren müssen, um sie aufzufangen. Vorsichtshalber legte er ihr schon mal den Arm um die Schultern. »Ich fahre Sie jetzt nach Hause.«
    Auf dem Weg vom Auto zum Haus taumelte sie, und der einzige Fotograf, der ausgehalten hatte, zückte schon seine Kamera, um sofort abzudrücken, wenn Lorraine in Ohnmacht fiel. Aber sie erholte sich und brachte die Zeitung um ein sensationelles Titelfoto. Resnick wartete geduldig, während sie ihren Hausschlüssel suchte. Meine Schuld, hatte Michael Morrison gesagt; es hätte ihn interessiert, was er damit meinte.
    »Sie sehen aus, als könnten Sie jetzt eine ganze Woche lang schlafen«, sagte Resnick, als sie im Haus waren.
    »Ha, wenn ich das könnte.« Sie lächelte blass. »Ich glaube eher, dass ich kein Auge zutun werde.«
    Resnick folgte ihr durchs Haus. »Wann haben Sie das letzte Mal etwas gegessen?«
    »Keine Ahnung.«
    »Okay. Setzen Sie sich irgendwo hin. Ich seh mal, was ich tun kann.«
    Auch jetzt wollte sie widersprechen, auch jetzt fehlte ihr die Kraft dazu. Resnick ließ sie im Wohnzimmer auf dem Sofa zurück. Die Küche sah aus wie eine Reklame für modernes Wohnen. Eine Küche, dachte Resnick etwas bitter,wie Elaine sie sich für sie beide gewünscht hätte: Aber dann hatte sie andere, unbescheidenere Ziele verfolgt. Warum sonst hätte sie sich einen erfolgreichen Immobilienmakler gesucht, der ein Ferienhaus in Wales zu bieten hatte und einen dicken Volvo, auf dessen Rücksitz man sehr bequem Ehebruch treiben konnte? Herrgott, Charlie!, dachte er, während er Eier in eine Schüssel schlug, du

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