Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)
und dann im Haus rumzutoben, bevor du unten eingeschlafen bist. Du hast nicht einen Finger gerührt, um mir zu helfen, du hast nicht einmal versucht, mich zu verstehen …«
»Verstehen? Man muss ein gottverfluchter Einstein sein, um dich zu verstehen, wenn du deine Launen hast.«
»Mein Gott, Kevin. Du kapierst es nicht mal jetzt, oder? Meine Launen! Mehr war es nie in deinen Augen – nichts als Launen. Was ist nur los, Kevin? Wenn ich nichts Konkretes vorzuweisen habe, eine körperliche Wunde oder so, um dir zu zeigen, dass ich Schmerzen habe, ist es nichts, wie? Wieso begreifst du nicht, dass ich krank war?« Sie schlang ihre Arme eng um ihren Körper, und zum ersten Mal fiel Naylor auf, wie dünn sie geworden war. »Und immer noch krank bin.«
Er zog ungeschickt einen der Stühle heran und setzte sich. Die Uhr im Holzgehäuse, die auf dem Kaminsims stand, tickte geräuschvoll die Zeit herunter. Wozu das ganze Theater?, dachte Kevin Naylor. Ich hätte gar nicht erst herkommen sollen.
»Die Kleine …«
»Sie schläft, Kevin. Sie ist eingeschlafen, kurz bevor du gekommen bist.«
»Wie praktisch.«
»Sag das nicht.«
»Aber es stimmt doch.«
»Sie hat mich letzte Nacht viermal rausgeholt und war dann den ganzen Tag quengelig. Ich habe Angst, sie jetzt zu wecken.«
»Dann komme ich eben später wieder.«
»Kevin, meine Mutter meint …«
»Ja?«
»Sie meint, ich soll zum Anwalt gehen.«
Naylor konnte nur noch lachen. Weshalb war er hergekommen? Was hatte er ihr sagen wollen? Komm wieder nach Hause, Debbie. Anfangs nur für ein paar Tage, wenn dir das lieber ist. Wir schaffen das schon, glaub mir. Wie sie dasaß und ihn ansah, so ratlos. Nun, jetzt würden sie es nicht mehr schaffen, es war aus. Ihm war zum Heulen.
»Kevin?«
Er riss die Tür auf, und da stand sie, am anderen Ende des Flurs, ihre gottverdammte Mutter mit ihrem höhnischen Grinsen. Naylor wusste, wenn er ihr nicht in das scheinheilige Gesicht schlagen wollte, musste er schleunigst hinaus. Er ließ die Haustür hinter sich weit offen und drehte den Zündschlüssel, noch ehe er richtig saß; erst zweihundert Meter später merkte er, dass er nicht einmal die Scheinwerfer eingeschaltet hatte.
26
Als Michael Morrisons Bruder Geoffrey fast drei war, entdeckte er ganz hinten im Kleiderschrank seiner Eltern ein großes Tier. Es war weich und weiß und kuschelig, seine Augen waren gelbe Perlen, Maul, Schnauze und Pfoten waren mit schwarzer Wolle aufgestickt. Geoffrey zerrte es aus dem Plastikbeutel, in dem es zusammengerollt lag, durch das Schuhwirrwarr seiner Mutter ans Licht. Es erinnerte ihn an den großen weißen Hund, den ihre Freunde, die Palmers, immer spazieren führten und auf dem er immer reiten durfte, als er noch kleiner gewesen war. Anfangs hatte der kleine Geoffrey Angst gehabt und sich an die Hand seines Vaters geklammert, während das Tier unter ihm sich kläffend schüttelte und versuchte, die Last loszuwerden. Aber als Geoffrey größer wurde, schrumpfte der Hund, und es machte Geoffrey einen Heidenspaß, sich auf dem Rücken des Hundes zu halten, die Zehenspitzen auf dem Boden, und dabei kreischend vor Vergnügen mit seinen kleinen Fäusten auf ihn einzuschlagen.
Das war der Moment, als die Palmers ihn vom Rücken des Hundes herunterholten und nie wieder hinaufließen. »Tut mir leid, Sportsfreund, dafür bist du jetzt zu groß.« Gerade als es solchen Spaß gemacht hatte.
Jetzt also hüpfte Geoffrey mit dem neuen Spielzeug im Schlepptau die Treppe hinunter.
»Oh, Geoffrey«, sagte seine Mutter, von ihrem Buch aufblickend, »wo hast du das denn gefunden? Schatz, schau doch mal, was er jetzt wieder gemacht hat.«
»Hm, Geoff.« Sein Vater kam mit einem Glas in der Hand aus dem Nebenzimmer. »Du warst wohl auf Entdeckungsreise, wie?«
»Hund«, sagte Geoffrey und schüttelte das Tier.
»Bär. Es ist ein Bär.«
»Hund.«
»Nein. Bär.«
»Hund!«
»Schatz, du wirst dich doch nicht mit ihm streiten.«
»Pass mal auf, Geoff.« Sein Vater beugte sich zu ihm hinunter. »Das ist ein Eisbär. Du hast doch sicher im Fernsehen schon mal einen gesehen. Du schaust dir doch immer diese Programme an. Nein? Mami, wir müssen mit ihm mal in den Zoo gehen.«
Mami verzog das Gesicht und versuchte vorsichtig, sich in ihrem Sessel zu drehen. Ganz gleich, in welche Position sie sich manövrierte, nach spätestens drei Minuten wurde es ihr unbequem. »Nimm es ihm lieber ab«, sagte sie, »bevor es schmutzig wird. Deine Mutter würde
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