Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)
ganzen Abend keine zwei Worte gesagt.«
»Was heißt, den ganzen Abend, du blöde Kuh?«
»Nenn mich nicht blöde Kuh.«
»Dann benimm dich nicht so. Es ist erst halb neun, wenn überhaupt.«
»Ja, okay.« Sara sah ihn wütend an. »Aber es kommt mir viel länger vor. Wenn du solche Laune hast, kommt einem eine Stunde mit dir wie eine Ewigkeit vor.«
»Ach ja?«
»Ja.«
»Na, das lässt sich ja leicht regeln, oder?« Raymond machte auf dem Absatz kehrt und schlurfte lässig, die Hände in den Hosentaschen, über den Platz davon, ohne auf Saras verspätetes »Ray-o!« zu achten. Einmal trat er wütendaus und schreckte eine Schar schmutziger Tauben auf, die über den Brunnen davonflatterten.
Als Naylor kurz vor der Hügelkuppe in einen niedrigeren Gang schaltete, war er nahe daran, es sich anders zu überlegen. Gas zu geben, am Haus vorbeizubrausen und dann um den Kreisverkehr herum den Weg zurück, den er gekommen war. Zurück zu dem Haus, das er und Debbie gemeinsam ausgesucht hatten, ein Häuschen für junge Familien in einer hübschen Wohnanlage, mit so dünnen Wänden, dass man sich bestimmt nie allein fühlte. So hatte Kevin Naylor jedenfalls geglaubt.
Er schaute in den Rückspiegel, setzte den Blinker und fuhr an den Straßenrand. Ein Vorhang bewegte sich, als er die Handbremse zog, den Gurt öffnete und die Scheinwerfer ausschaltete.
Debbies Mutter ließ ihn warten und begrüßte ihn schließlich mit essigsaurer Miene. War es Einbildung oder roch es im Haus immer nach Desinfektionsmitteln?
»Sie ist da drinnen.«
Es war das Esszimmer, obwohl Naylor sich nicht vorstellen konnte, dass es Debbies Mutter je einfallen würde, jemanden zum Essen einzuladen. Höchstens den Bestattungsunternehmer.
Debbie saß hinten in der Ecke, nahe dem Fenster mit den geschlossenen Vorhängen, in einem Parker-Knoll-Sessel mit glänzenden Holzarmlehnen, der schon vor Debbies Geburt in der Familie gewesen war. Der Tisch, Walnussfurnier, auf beiden Seiten ausgezogen, war beinahe so lang wie der ganze Raum. Eine Topfpflanze mit ovalen Blättern lehnte sich, vergeblich Licht suchend, nach links.
Debbie trug eine schwarze Wolljacke über einem schwarzen Pulli, dazu einen formlosen schwarzen Rock, der ihre Knie bedeckte. Keine Schminke, soweit er das sah. Naylorfragte sich, ob sie einem frommen Orden beigetreten war, und wenn ja, welchem.
»Hallo«, sagte er. Seine Stimme klang ungewöhnlich laut in dem Zimmer, so laut, dass ihre Mutter sie leicht hören konnte, wenn sie vor der Tür stand – was sie mit Sicherheit tat. »Debbie, wie geht es dir?«
Sie hob den Kopf, um ihn anzusehen, und senkte ihn gleich wieder.
»Wie geht es der Kleinen?«
Jetzt sah sie mit starrem Blick an Naylors linker Schulter vorbei, ohne auch nur einmal mit den Wimpern zu zucken.
»Debbie, die Kleine …«
»Es geht ihr gut.«
»Kann ich sie sehen?«
»Nein.«
»Debbie, herrje, du …«
»Ich habe nein gesagt.«
»Und warum nicht?«
»Darum.«
»Was soll das denn für eine Antwort sein?«
»Die einzige, die du erwarten kannst.«
Er kam um den Tisch herum und sah ihre verkrampften Hände auf den Armlehnen des Sessels, den ängstlich zurückgelehnten Oberkörper, die Furcht in ihrem Blick.
»Keine Angst, ich schlage dich nicht«, sagte er leise.
»Das möchte ich dir auch geraten haben. Du …«
»Du hast gewusst, dass ich komme. Du musst doch gewusst haben, dass ich sie sehen möchte.«
»Du hast eine merkwürdige Art, das zu zeigen.«
»Was soll das heißen?«
»Na, wann warst du denn das letzte Mal hier? Wann hast du das letzte Mal auch nur versucht, deine Tochter zu sehen?«
»Daran ist nur deine Mutter schuld, die jedes Mal …«
»Lass meine Mutter aus dem Spiel.«
»Gern.«
»Wenn meine Mutter nicht gewesen wäre …«
»… wären wir jetzt alle drei zusammen bei uns zu Hause.«
»Nein.«
»Doch.«
»Nein, Kevin.«
»Doch.«
»Nein, denn wenn das noch länger so gegangen wäre, säße ich jetzt in Mapperley und die Kleine wäre in Pflege.«
Naylor trat zurück und krachte mit der Hüfte gegen den Tisch. »Was redest du für einen Blödsinn?«
»Findest du?«
»Ja, und du weißt es ganz genau.«
»Dann frag doch mal die Ärztin, Kevin. Frag sie. Es soll vorkommen, dass Frauen nach der Entbindung Depressionen bekommen, falls du das noch nicht wissen solltest.«
»Depressionen? Du hast …«
»Genau das meine ich. Ich war krank, und dir ist nichts Besseres eingefallen, als dich jeden Abend volllaufen zu lassen
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