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Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)

Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harvey
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sie überhaupt merkte, dass er da war. Nach nur wenigen Wochen kam wieder ein Krankenwagen und nahm sie mit, diesmal in die Nervenklinik, wo sie bis zum Ende ihrer Tage blieb.
    Sonntags fuhren sie in die Klinik, sein Vater in Anzug und Krawatte, seine Mutter im guten Kleid, neben sich eine Tasche mit frischem Obst, selbstgebackenen Plätzchen und einer Thermosflasche Bouillon. Sie parkten auf dem Klinikgelände und Resnick musste im Auto bleiben und die Türen abschließen, während seine Eltern in dem großen, finsteren Bau mit den Ecktürmchen und den eisernen Dachgittern verschwanden. Eine Stunde später kamen sie wieder, sein Vater kopfschüttelnd, seine Mutter mit Tränen, die sie wegtupfte. Wenn er fragte, wie es seiner Großmutter gehe, antwortete sein Vater gar nicht und seine Mutter presste die Lippen zusammen und zwang sich zu lächeln. »Ein kleines bisschen besser, diese Woche, meinst du nicht auch, Vater? Ja, Charles, ein kleines bisschen besser.«
    Als sie ein Jahr später an einer Lungenentzündung starb, waren sie sich einig, dass es ein Segen sei. Zu ihrer Beerdigung kam die ganze polnische Gemeinde, der Trauerzug von der Kathedrale zum Friedhof blockierte den Verkehr beinahe eine halbe Stunde lang.
    Jetzt saß Resnick wieder auf diesem Parkplatz, im Grau eines frühen Winterabends, der kaum mehr als Regen verhieß.
    Der Arzt hatte ihn am späten Nachmittag angerufen, zurückhaltend, vorsichtig. »Heute hat eine Polizeibeamtin bei mir Erkundigungen eingeholt; sie hat mich an Sie verwiesen.«
    Nur ein Flügel des Gebäudes war erleuchtet. Der Rest war dunkel und leer. Trotz aller Proteste schien bereits sicher zu sein, dass auch dieser Trakt innerhalb der nächsten zwölf Monate geschlossen und die Patienten in die Obhut der Gemeinde entlassen würden. Manche würden in Wohnheimen unterkommen oder in Häusern zusammenleben, die die Behörde eigens für sie erworben und renoviert hatte. Viele aber würden ratlos zwischen Sozialarbeitern, ehrenamtlichen Helfern, Ambulanzen und Allgemeinärzten umherirren, die schon lange weit überlastet waren. Bald würde Resnick ihre Gesichter immer wieder sehen: auf den Bänken oberhalb von »Bobby Brown’s Café«, bei den Brunnen am Slab Square; wenn sie draußen vor der Notschlafstelle am Kreisverkehr der London Road herumhingen oder zwischen Zigarettenkippen und Erbrochenem auf dem Boden im Bushof lagen und schliefen.
    Der Pfleger, der Resnick erwartete, war Ende zwanzig, schmächtig und nicht viel kleiner als Resnick, hatte rotblondes Haar und klare, hellblaue Augen. Er trug eine weite beigefarbene Baumwollhose und ein verwaschenes grünes Hemd über einem ebenso verwaschenen T-Shirt mit Solidaritätsbekundungen für irgendetwas, das Resnick nicht genau ausmachen konnte. Diana Wills, berichtete er, war am vergangenen Freitag aufgenommen worden, weil sie sich nach eigener Aussage völlig überfordert fühlte.
    »Wovon?«, fragte Resnick.
    Der Pfleger sah ihn fassungslos an.
    »Und seitdem ist sie hier? Es ist nicht möglich, dass sie die Klinik irgendwann zwischendurch verlassen hat?«
    »Möglich wäre es, aber ich glaube nicht, dass sie es getan hat. Sie will mit nichts und niemandem etwas zu tun haben. Nur deshalb konnten wir ihr die schlimme Nachricht überhaupt so lange verheimlichen.« Er sah Resnick ernst an.»Ich nehme doch an, Sie haben nicht vor, ihr das mit ihrer Tochter zu sagen.«
    Resnick schüttelte den Kopf.
    »Man kann es ihr natürlich nicht ewig verheimlichen. Das sollte man auch gar nicht, aber wenn sie es gerade jetzt erführe …«
    »Ich gebe Ihnen mein Wort.«
    »Sie müssen eins verstehen: Diana steht unter großer seelischer Anspannung; schon seit einer ganzen Weile. Aber wir haben Fortschritte gemacht. Trotzdem – so eine Geschichte könnte sie weit zurückwerfen.« Er sah Resnick scharf an. »Wenn wir Ihnen gestatten, mit ihr zu sprechen, gehen wir davon aus, dass Sie sensibel mit ihr umgehen werden.«
    Resnick nickte. »Ich verstehe.«
    »Das hoffe ich. Sie erwartet Sie. Kommen Sie.«
    Resnick folgte dem Pfleger den hohen, kahlen Korridor hinunter. Aus irgendeinem Stockwerk hörte er die Musik von ›Nachbarn‹, das gerade begann oder zu Ende ging. »Sie bekommt immer noch sehr starke Medikamente«, bemerkte der Pfleger mit gesenkter Stimme vor einer Tür. »Sie wird verstehen, was Sie sagen, aber es kann sein, dass sie mit manchen Antworten etwas länger braucht. Ihnen wird vielleicht auffallen, dass sie zittert, besonders mit den

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