Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)
sie eigens mit dem Bus nach Birmingham zu einem Konzert von ihm gefahren, sie hatte einen miesen Platz gehabt, aber Phil Collins war gut gewesen, richtig gut.
»Wie läuft’s?«, fragte sie.
»Frag lieber nicht.«
Sie trank von ihrem Bier und ließ ihn in Ruhe. Er redete, wenn ihm danach war, oder er redete gar nicht, so war Kevin.
»Es ist alles im Arsch«, sagte er Augenblicke später unvermittelt. Sie glaubte, er spreche von den Ermittlungen, merkte aber schnell, dass es um etwas anderes ging. »Debbie ist wieder zu Hause bei Mama und hat die Kleine mitgenommen. Echt Scheiße ist das alles.«
»Ach, Kevin.« Lynn drückte ihm die Hand. »Das tut mir wirklich leid.«
»Schönen Dank, ich hab die Nase voll von Mitleid, das hilft mir auch nicht weiter.«
»Kannst du nicht mit ihr reden, ganz vernünftig …?«
»Mensch, sei mal still«, sagte Naylor plötzlich, und Lynn zuckte zusammen wie unter einem Schlag. Erst als sie Kevin ins Gesicht sah, erkannte sie, dass seine Reaktion nicht ihren Worten galt; sein Blick war auf den Fernseher über dem Tresen gerichtet.
Der Bildschirm zeigte die Polizeizeichnung von dem Mann, der in der Nähe des Hauses der Familie Morrison gesehen worden war, ein faltiges Gesicht mit einer kräftigen Nase, glatt rasiert, Geheimratsecken.
»Kevin, was ist los?«
»Der Kerl da, den kenn ich. Mit dem hab ich erst heute Nachmittag geredet.«
31
Als Resnick noch ein Kind gewesen war, elf Jahre alt, war seine Großmutter in dem kleinen Hinterzimmer, dem Wohnzimmer der Familie, ausgerutscht und gestürzt. Mit dem Arm oder dem Bein, wie auch immer, hatte sie dabei einige glühende Kohlenstückchen aus dem Feuer im offenen Kamin gestoßen, und während sie besinnungslos vom Sturz, bei dem sie mit der Schläfe auf die Fliesen vor dem Kamin geschlagen war, auf dem Teppich lag, begann dieser unter der Kohle zu schwelen. Nach wenigen Minuten sprang ein Funke auf den Stoff ihres Kleides über und setzte es in Flammen. Resnicks Mutter, die in der Küche Mehl und Rindertalg mischte, um Klöße zu machen, Wasser aus dem Messbecher dazugab, einen Teelöffel Senfpulver und eine Prise Dill, hatte plötzlich den Eindruck, es rieche verbrannt. Der Schmortopf war es nicht. Als sie schließlich entdeckte, woher der Geruch kam, standen die Kleider der alten Frau bereits in hellen Flammen, und sie war mitten aus einem Traum erwacht, der keiner war, einem Albtraum,der keiner war, zu gellenden Schreien, die ihre eigenen waren. Eine alte Frau mit lodernden Haaren rund ums Gesicht.
Resnicks Mutter hatte mit der kühlen Besonnenheit und Geistesgegenwart reagiert, die uns manchmal in schlimmsten Notlagen gegeben sind. Als die Feuerwehr, der Krankenwagen und die Polizei eintrafen – und sie kamen schnell –, war das Feuer bis auf einige schwelende Reste gelöscht. Resnicks Großmutter lag neben dem massigen Büfett, das an der Wand stand. Decken waren über ihren Körper gebreitet, hüllten den verbrannten, von Blasen übersäten Kopf ein. Sie wurde ins Krankenhaus gebracht, sediert, behandelt und, sobald ihr Zustand sich stabilisiert hatte, in die Abteilung für Verbrennungen verlegt. »Ihre Mutter«, erklärte der Arzt Resnicks Mutter, »hat ein traumatisches Erlebnis hinter sich. Sie wird Zeit brauchen, um sich davon zu erholen.« Beinahe einen Monat harrten Resnicks Eltern am Krankenbett aus, aus dem kein Laut zu hören war außer Gewimmer, wenn die Kranke sich bewegte. Resnick selbst durfte nicht ins Krankenhaus, man wollte das Schlimmste vor ihm verbergen, ihm den Schock ersparen. Als seine Großmutter endlich doch den Mund öffnete, stieß sie einen lauten Schrei aus und schimpfte ihre Tochter eine Hure.
Wochenlanges Schweigen wurde von plötzlichen Tiraden wilder Beschuldigungen, beinahe immer auf Polnisch, unterbrochen. Ihre Kinder hätten sie an die Nazis verraten, jetzt werde sie an den Füßen aus dem Getto geschleift, in einen Viehwaggon gepfercht und ins KZ gebracht, sie könne die Asche in der Luft treiben sehen, das Feuer in den Öfen riechen, den süßlichen Gestank brennenden Fleischs, brennender Haut und Haare.
Als sie endlich nach Hause durfte, saß sie den ganzen Tag nur in der Küche und wiegte sich auf einem Stuhl mit hoherLehne ununterbrochen vor und zurück, ein Tuch um den Kopf gewickelt, auf dem zwischen den Narben stellenweise das Haar nachgewachsen war. Einmal stand Resnick da, bis es ihn in den Beinen kribbelte, und hielt ihre Hand, ohne zu wissen, ob sie ihn erkannte, ob
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