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Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)

Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harvey
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Bild erneut gedreht, Lorraine war jetzt wieder diejenige, die irgendwo die Kraft fand, um ihm über den Rest des Tages zu helfen – eines weiteren Tages, seit Emily unter Zurücklassung ihrer Puppenschar verschwunden war.
    Natürlich bestand immer noch die Möglichkeit, dass sie gesund und unversehrt war.
    Natürlich.
    Das Telefon läutete plötzlich, und ehe Lorraine es erreichte, hörte es schon wieder auf. Sie blieb stehen und starrte es an, als könnte sie es so zwingen, noch einmal zu läuten.
    »Vielleicht«, sagte sie, als sie wieder in der Küche war, »sollten wir deinen Bruder anrufen.«
    »Geoffrey? Wozu denn das, um Himmels willen?«
    »Er sagte doch, er wolle … ich meine, die Belohnung …«
    »Nein.«
    »Michael, warum denn nicht?«
    »Du weißt, was die Polizei dazu gesagt hat.«
    »Ja, aber was bleibt uns denn? Sie haben doch bis jetzt überhaupt nichts erreicht.«
    »Trotzdem.« Er stand auf und öffnete den Scotch, sollte Lorraine sich doch aufregen. Aber sie sagte nichts, ließ nur Wasser in den Elektrokessel laufen, um sich eine Tasse Tee zu machen.
    »Hör zu«, sagte Michael, »wenn ich glaubte, dass es auch nur im Geringsten helfen würde …«
    »Ich meine doch nur, was haben wir schon zu verlieren?«
    Michael schmeckte kaum etwas vom Whisky; er trank noch einmal. »Mein Leben lang hat mein Bruder versucht, über mich zu bestimmen«, sagte er. »Michael, schlaf nicht, tu dies, tu jenes. Michael, wenn du nur schlau genug wärst, schnell genug, wenn du Mumm genug hättest, wärst du mehr wie ich.«
    »Er will doch nur das Beste …«
    »Er will, dass ich mich ihm so weit annähere, dass ich den Abstand zwischen uns beiden besser erkenne.«
    Sie schlüpfte unter seinen Armen, unter seiner Abwehr hindurch und küsste ihn auf den Mundwinkel. »Ich will doch nicht, dass du so wirst wie Geoffrey.«
    »Ich weiß.« Michael schloss die Augen und senkte das Gesicht zu ihrem Haar hinunter. »Ich weiß.«
    Sie drückte ihn leicht an sich, tief unten am Rücken. Als er nicht auszuweichen versuchte, sie nicht wegstieß, zog sie sein Hemd aus dem Gürtel und begann seine bloße Haut zu streicheln.
    »Lorraine«, flüsterte er. »Lorraine.«
    »Ich dachte nur«, sagte Lorraine leise, »selbst wenn nichts dabei herauskommt, was kann es denn schon schaden?«
    Zwei Dinge tat Stephen Shepperd jeden Abend um halb zehn: Er sperrte beide Haustüren ab und prüfte die Riegel an den Erdgeschossfenstern, und wenn das erledigt war, machte er das Tablett zurecht: Horlicks Malzgetränk für Joan, nichts zu trinken für sich selbst, sonst musste er in der Nacht dauernd raus. Vier Kekse, mit Butter bestrichen, zwei mit einem schönen Stück reifem Cheddar, die anderen mit einem Klecks Marmelade, schwarze Johannisbeere oder Aprikose; der Käse war für ihn. Es hieß, abendlicher Käsegenuss fördere das Träumen, aber darauf gab er so wenig wie auf all die anderen Ammenmärchen, die so erzählt wurden. Es war noch keine vier Jahre her, da hatte Joan ihn auf dem Goose Fair überredet, zu einer Wahrsagerin zu gehen. Ein langes, glückliches Leben hatte diese ihm prophezeit. Und erfreuliche Neuigkeiten in der Arbeit: eine Beförderung. Doch stattdessen bekam er die Kündigung. Seitdem hatte er keine geregelte Arbeit mehr. Bald war er fünfzig – Quatsch, was redete er da? Er war über fünfzig – die meisten Firmen antworteten ihm nicht einmal. Na ja, irgendwie hatten sie sich eingerichtet, und es war gar kein so übles Leben.
    Er öffnete zuerst die Tür, dann holte er das Tablett. Gerade rechtzeitig, denn soeben begann die Kennmelodie der Zehnuhrnachrichten.
    Lynn Kellogg saß schon angeschnallt im Wagen, als sie merkte, dass sie noch gar nicht nach Hause wollte. Der Gedanke an den Wäschestapel, den sie neben dem Bügelbrett deponiert hatte, war Abschreckung genug. Sie traf Divine und Naylor genau dort an, wo sie sie vermutet hatte, Divine stand an der Ecke des Tresens, in angeregtem Gespräch mit einem hochgewachsenen Schwarzen, was wahrscheinlich bedeutete, dass er auf Informationen aus war. Denn wenn es allein um Wein, Weib und Gesang ging, übersprang Divine nur selten die Rassenschranke.
    Sie holte ein Bitter für sich und ein Helles für Kevin Naylor und gesellte sich zu ihm ans Fenster. Vom anderen Ende des Raums schallte das elektronische Geratter von Spielautomaten herüber und über die lausige Anlage des Pubs gab Phil Collins Versprechen, die er nicht halten konnte. Lynn mochte Phil Collins; im Frühjahr war

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