Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)
im oberen Stock, das doppelt verglast zu sein schien, waren die Fenster klein, mit vielfach unterteilten Scheiben. Die schweren, gefütterten Vorhänge waren ordentlich zugezogen. Über der Haustür brannte eine Messinglampe.
»Wir wollen mal lieber nicht wie ein Spezialkommando daherkommen«, sagte Resnick.
Lynn hielt sich im Hintergrund und ließ die beiden Männer zur Tür gehen.
Folgendes war geschehen: »Schnell«, hatte Joan gerufen, als sie hörte, wie bedächtig ihr Mann durch den Flur tappte, »es hat schon angefangen.« Ja, glaubte sie denn, er wüsste das nicht? Aber wenn er jetzt hetzte, würde er höchstens stolpern, und dann wäre ihr Imbiss futsch. Außerdem, was war denn schon groß zu erwarten? Die Hauptschlagzeilen würde doch garantiert wieder der ehemalige Ostblock machen. Es war noch gar nicht so lange her, Stephen erinnerte sichlebhaft daran, da hatten die Welt und seine Frau gejubelt über die große Veränderung, über diese Menschen, die sich endlich von ihren Fesseln befreiten und nach freien Wahlen lechzten. Nach Demokratie. Stephen ging seit mehr als dreißig Jahren brav zur Wahl, aber er konnte nicht behaupten, dass sein Leben dadurch wesentlich besser geworden wäre.
»Stephen!«
»Ich komme.«
Es wäre schön, wenn sie ihn nicht immer anherrschen würde, als wäre er einer von ihren Fünfjährigen. Aber genau betrachtet war sie mit denen um einiges geduldiger.
»Ste …«
»Ich bin ja schon da.«
Auf dem Bildschirm der Kopf der Nachrichtensprecherin – es war die dunkle, nicht die ganz dunkle, die Schwarze, die kannte er, sondern die hier, die andere, hellhäutig, aber trotzdem dunkel, Chancengleichheit, wurde auch mal Zeit, aber das half ihm auch nicht, sich an ihren Namen zu erinnern – na, jedenfalls, da war ihr Kopf und dahinter rollten Panzer irgendwo auf einer Straße.
»Ich dachte schon, du kommst überhaupt nicht mehr«, sagte Joan, als er das Tablett auf die zusammengerückten Beistelltische stellte.
»Und wo sind wir diesmal?«, fragte Stephen. »Kroatien? Tschechoslowakei?«
»Belfast.«
Stephen starrte mit zusammengekniffenen Augen auf den Bildschirm.
»Mit der Aprikosenmarmelade hast du aber ein bisschen geknausert, Stephen«, bemerkte seine Frau.
»Ich musste das Glas auskratzen. Deshalb habe ich auch so lange gebraucht.« Er nahm seinen Teller und stellte ihn auf die Armlehne des Sessels, in dem er es sich bequem zu machen gedachte.
»Ach, lass das doch endlich mal.«
»Was?«
»Irgendwann landet die ganze Bescherung garantiert auf dem Teppich.«
»Na, bis jetzt ist noch nichts passiert.«
Die Sprecherin kündigte eine wichtige neue Entwicklung im Fall der vermissten kleinen Emily Morrison an.
»Das möchte ich sehen«, sagte Stephen.
»Dann setz dich endlich hin.«
Mit einer Hand auf die Armlehne des Sessels gestützt, wollte Stephen sich herumdrehen. Doch ehe er ganz herum war, erschien die Polizeizeichnung auf dem Bildschirm. Mit einem Ruck richtete Stephen sich auf und prallte, als er vom Sessel zurücktrat, mit den Beinen gegen das Tablett. Joans Becher flog durch die Luft, heiße Malzmilch ergoss sich über ihren Rock und den Teppich.
»Stephen! Was um Gottes willen …«
»Tut mir leid. Tut mir leid.« Er ruderte mit den Armen, um nicht ganz das Gleichgewicht zu verlieren, krachte mit den Schienbeinen an die zusammengestellten Tische, fluchte, bückte sich, um sich das Bein zu reiben, und seine Käsebiskuits landeten auf dem Boden, als er heftig mit dem Sessel zusammenstieß.
»Wer diesen Mann kennt, wird gebeten, sich bei der nächsten Polizeidienststelle zu melden …«
Joan war aufgesprungen und schüttelte ihren Rock aus. Stephen sammelte auf Knien die Biskuits, den Teller und den leeren Becher ein. Ihm war eiskalt. Er hielt den Becher zwischen den Fingern und ließ ihn wieder fallen.
»Der schöne neue Teppich«, jammerte Joan. »Der ist hin.«
»Ist doch nur Milch. Die geht wieder raus.«
»Eben nicht. Milch ist das Schlimmste überhaupt.« Joan schauderte. »Dieser ekelhafte saure Geruch, der bleibt ewig hängen.«
Die Nachrichtensprecherin war schon beim nächsten Punkt: Das Porto für Briefe und Päckchen würde wieder teurer werden. In den nächsten zwanzig Minuten wurde der Teppich mit feuchten Tüchern bearbeitet, wurden Besen und Schaufel zur Beseitigung der Krümel und ein weiteres Tuch, ein trockenes, zum Aufsaugen der Butterflecken, unter der Spüle hervorgeholt; neue Biskuits wurden gestrichen und belegt und ein
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