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Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)

Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harvey
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Wicht, die Arbeit, für die ich Idiot dich bezahle, ist es jedenfalls nicht, das weiß ich genau. Hier. Schau’s dir an.«
    Mit Tritten zerrte er Raymond in den Hof hinaus, schleifte ihn zwischen den ausgeweideten Tierkörpern hindurch, die da aufgereiht hingen, und schleuderte ihn schließlich mit Wucht an die geöffnete Hecktür eines Lieferwagens.
    »Schau’s dir an!«, brüllte er. »Schau rein und sag mir, was du siehst. Siehst du da irgendwo Lendenstücke? Abgepacktes Gefrierfleisch? Kurzrippensteaks, beste Qualität? Schweinebauch? Na?«
    Raymond lehnte sich schwer an den Lieferwagen, er hätte sich gern die angeschlagene Hüfte gerieben und zurückgebrüllt, hätte Hathersage am liebsten gesagt, nimm doch deinen Scheißjob und schieb ihn dir irgendwohin, ist mir doch egal.
    »Was bist du nur für ein erbärmlicher Kerl.« Hathersage schüttelte den Kopf. »Wenn du dich selber sehen könntest, würdest du unter den nächsten Stein kriechen und verrecken.«
    Raymond, immer noch an den Wagen gelehnt, schnaufte. Rotz lief ihm aus der Nase in die dünnen Härchen, die auf seiner Oberlippe sprossen.
    »Da! Schau dir das mal genau an, wenn du lesen kannst.« Hathersage warf Raymond eine Kopie der Bestellung zu. Der fing sie so ungeschickt auf, dass sie beinahe zerriss.
    Der Betriebsleiter trat kopfschüttelnd weg; zwei Metzger in weißen Mützen, weißen Gummistiefeln und Overalls, die längst nicht mehr weiß waren, kamen vorbei. »Ray-o«, leierten sie gedämpft in einträchtigem Singsang. »Ray-o, Ray-o, Ray-o.«
    »Sieh zu, dass du das auslädst. Prüf die Bestellung, bring sie in Ordnung. Wenn du Glück hast, stehe ich heute Abend, wenn du gehst, nicht mit deinen Papieren am Tor. Aber verlass dich lieber nicht drauf.«
    Raymond betete darum, dass Hathersage bei Schichtende am Tor stehen und ihm kündigen würde. Dann wäre endlich Schluss – damit wenigstens. Aber als er schließlich mit hängendem Kopf hinausschlich, sah er Hathersage nur durchs Bürofenster, wie er mit rotem Gesicht schallend lachte.
    Heute Abend würde er, wie so oft, nach Hause zu seinem Vater gehen. Sie würden Wurst und gebratene Zwiebeln mit Kartoffelpüree, Baked Beans und Tomatensoße essen. Und Tee trinken, der so stark war, dass der Löffel darin stand. »Eins hat deine Mutter nie gelernt«, würde sein Vater wahrscheinlich wieder einmal sagen. »Wie man eine anständige Tasse Tee kocht.«
    Na und? Dafür hatte sie anderes geleistet; seinen Vater durchschaut, zum Beispiel. Nach fünf Jahren Ehe, Raymond war fast vier, hatte sie erkannt, dass sein Vater das bisschen erreicht hatte, was er je erreichen würde. Daraufhin hatte sie sich einen Handlungsreisenden geschnappt, der von Dorfladen zu Dorfladen, von Kleinstadtkaufhaus zu Kleinstadtkaufhaus fuhr – einen Vertreter für Haushaltswaren, Bürsten, Wäscheleinen, Wäscheklammern, dreiteilige Kehrsets. Wenn er nicht unterwegs war, lebte er in einem Wohnwagen in Ingoldmells. Raymonds Mutter hatte den Geruch des Meeres immer geliebt.
    In den ersten Jahren hatte sie ihm zu Weihnachten undzum Geburtstag Karten geschickt. Raymond hatte sie alle aufgehoben, sie von Zeit zu Zeit herausgenommen und mit den Händen über den leicht erhabenen Druck, die langsam verblassenden Worte gestrichen. Alles Liebe von deiner Mama. Alles Liebe, Mama. Alles Liebe, Mama. Mit vierzehn hatte er sie hinten in den Hof getragen, jede einzelne in winzige Fetzen zerrissen und liegen lassen, damit der Wind sie forttragen konnte. Selbst jetzt kam es manchmal noch vor, dass er in die Schublade schaute und die Kleidungsstücke in der Erwartung herausnahm, dass die Karten noch da liegen würden, gut aufgehoben, ganz zuunterst; ohne Knicke.
    Raymond fasste einen Entschluss: Er würde nicht nach Hause gehen. Genug mit dem ewigen Gerangel zwischen seinem Vater und seinem Onkel, und er immer dazwischen. Sara, das wusste er, würde abends zu Hause bleiben, um ihrer Mutter beim Haarewaschen zu helfen. Es war ihm egal. Nach dem Bad konnte er sich in sein Zimmer setzen, Fernsehen schauen und mit seinem Messer spielen.
    Michael stocherte in seinem Abendessen herum, bis Lorraine den Teller wegnahm und das Essen in den Müll kippte. Sie stellte ihm ein Schälchen mit seinem Lieblingseis hin, Vanille mit Himbeersirup, direkt aus dem Tiefkühlschrank, aber er saß nur da und sah zu, wie es langsam zerlief. Seit dem Fernsehauftritt schienen bei ihm die letzten Reserven erschöpft zu sein; nach knapp zwölf Stunden hatte sich das

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