Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)
vielleicht.«
»Aber im Inneren«, fuhr Diana fort, »wusste ich, dass es nicht richtig war. Trotzdem hatte ich das Gefühl, ich würde es einfach nicht lassen können. Deshalb bin ich dann hierher zurückgekehrt, in die Klinik. Damit ich Emily nicht einfach mitnehme.« Sie wischte sich den Mund und lächelte. »Ich war früher schon einmal hier, wissen Sie. Es ist angenehm hier. Es ist ruhig. Sie verstehen einen. Sie machen einen wieder gesund.«
Resnick bedeckte sein Gesicht mit den Händen.
»Was ist?«, fragte Diana. »Was ist mit Ihnen?«
Kurz darauf kam der Pfleger wieder. Im Korridor bot Resnick Diana Wills die Hand. Als sie sie berührte, zaghaft, mit den Fingerspitzen, trat er zu ihr hin, nahm sie in den Arm und hielt sie fest an sich gedrückt.
Im strömenden Regen sah das Gebäude schwarz aus und der Himmel noch schwärzer. Resnick blieb bei laufendem Motor sitzen, wo er war. Vor ihm lag eine lange Nacht, die sich bis in die frühen Morgenstunden hinziehen würde. Er würde schwarzen Kaffee trinken und wieder Billie hören, Billie und Lester Young, Hodges und Monk. Wie kam es, dass es ihm, der jeden Hilferuf Elaines überhört, der nie versucht hatte, herauszufinden, wo sie war oder wie es ihr ging, selbst jetzt nicht, dass es ihm so leichtfiel, mit dieser Fremden zu fühlen, sie in die Arme zu nehmen und festzuhalten, diese Frau, der er nie vorher begegnet war?
32
Als Naylors Anruf mitten in das Intro von ›No Regrets‹ hineinplatzte, in diese wenigen sparsamen Akkorde von Dick McDonoughs Gitarre, bevor Billies Stimme einsetzte, wälzte sich Resnick vom Sofa und lief die Störung verfluchend zum Telefon. Der erste Chorus war kaum vorüber, als Resnick schon nachzufragen begann. Dabei knöpfte er, den Hörer zwischen Kinn und Schulter geklemmt, ungeschickt sein Hemd und richtete die Krawatte. Dann wieder Naylors aufgeregte Stimme und aus der Anlage auf der anderen Seite des Zimmers die Stop-Time-Phrasen von Artie Shaws Klarinette.
»Sie haben die Adresse? … Gut. Wer ist jetzt bei Ihnen? … Sagen Sie ihr, sie soll mich abholen.«
Resnick legte auf. Wieder beim Sofa kniete er sich hin, um seinen zweiten Schuh zu suchen. Billie Holiday schmiegte sich in ihren letzten Refrain und der Schlagzeuger ließ es ein paarmal kräftig krachen, während die Band sich mit den letzten Takten um sie schloss. Zwei Minuten, dreißig Sekunden, vielleicht ein paar mehr. Resnick kippte kalten Kaffee hinunter und ging zur Tür.
»Stephen Shepperd, Sir. Zweiundfünfzig. Seine Frau Joan ist Aushilfslehrerin an Emily Morrisons Schule. Kevin hat heute Nachmittag dort mit ihr gesprochen. Da ist er Stephen begegnet. Sie wohnen in einer Seitenstraße der Derby Road, rechts den Berg rauf.«
»In der Nähe der Hochhäuser?«
»Drei Straßen entfernt.«
Resnick konnte sich die Ecke vorstellen, Doppelhäuser aus den Dreißigerjahren, Art-déco-Verschnitt, vorn Buchsbaumhecken, hinten kleine, adrette Gärten; Betonpoller in der Mitte der Querstraßen, um den Verkehr zu beruhigen.
Als sie am Canning Circus vorüberfuhren, brannten in der Polizeidienststelle noch einzelne Lichter. In den fünf umliegenden Pubs drängten sich jetzt die Gäste am Tresen, um sich noch ein letztes Glas vor der Sperrstunde zu holen. Ein paar Studenten, die Hände in den Hosentaschen, waren auf dem Rückweg zum Campus. Lynn Kellogg bremste ab, setzte den Blinker und bog links in die Straße ein, in der die Shepperds wohnten.
Das Haus befand sich im ersten Drittel der Straße und war nach Westen ausgerichtet, hangabwärts, mit Blick auf das Queens Medical Centre und die Universität; viel näher, nur einen Katzensprung entfernt, lag die Hochhaussiedlung, die Gloria Summers’ Zuhause gewesen war. Naylor hatte fünfzig Meter weiter auf der anderen Straßenseite geparktund kam ihnen jetzt entgegen, den Blick auf das Haus der Shepperds gerichtet.
»Noch mal«, sagte Resnick. »Wie sicher sind Sie?«
»Na ja, es war halt keine Fotografie.«
»Das heißt aber nicht, dass Sie jetzt einen Rückzieher machen?«
Ein kurzes Kopfschütteln. »Nein, auf keinen Fall. Aber Sie wissen ja, Zeichnungen sind ungenau. Nach flüchtigen Eindrücken angefertigt. Mehr als eine Ähnlichkeit gibt’s da nicht.«
»Und in dem Fall gibt’s eine Ähnlichkeit?«
»Ja, Sir.«
»Gut.«
Der Sockel des Hauses bestand aus vergilbendem Backstein, der Rest aus cremefarbenem Rauverputz, der bald eine Sanierung brauchen würde. Abgesehen von einem größeren Panoramafenster
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