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Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)

Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harvey
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schrillen Quietschen einer übersteuerten Gitarre übertönt.
    »Je lauter, desto lustiger.« Lynn lächelte.
    Kevin Naylor sagte nichts. Er war nervös.
    Im Kühlschrank stand eine einsame Flasche Heineken, Lynn wollte sie teilen, aber Naylor lehnte ab. Sie setzte stattdessen Wasser auf und suchte passendere Musik heraus, Joan Armatrading, wenngleich sie bezweifelte, dass das Kevins Ding war.
    »Wann ist das denn passiert?«, fragte Lynn und reichte ihm, als sie bemerkte, dass er mit einer Zigarette und seinem Feuerzug spielte, eine Untertasse: »Hier, nimm die.«
    »Ich weiß, das klingt blöd, aber es ist schwer zu sagen. Ich meine, es war nicht so, dass ich eines Tages von der Arbeit ins leere Haus kam. Es ging ganz allmählich, überMonate. Es fing damit an, dass sie die Kleine hin und wieder zu ihrer Mutter brachte. Und jedes Mal ließ sie sie länger dort. Okay, ich meine, ich fand es nicht gut, überhaupt nicht, trotzdem hab ich’s akzeptiert. Es ging ihr nicht gut, sie war ziemlich fertig, irgendwie deprimiert seit der Entbindung, und die Kleine hat sie nachts kaum schlafen lassen. Gut, dachte ich mir, wenn die Kleine drüben bei ihrer Großmutter ist, hat Debbie wenigstens mal ein paar Stunden Ruhe. Haben wir beide Ruhe.«
    Der Wasserkessel pfiff, und Lynn ging in die Küche. »Sprich ruhig weiter. Ich höre dich.«
    Aber er wartete, bis sie wieder ins Zimmer kam.
    »Zucker?«
    »Ja, bitte, zwei Stück.«
    »Du sagtest, dass die Kleine bei Debbies Mutter geschlafen hat.«
    »Richtig. Und dann blieb Debbie selber auf einmal auch über Nacht. Ich kam abends nach Hause …«
    Nach ein, zwei Bier mit Divine, dachte Lynn.
    »… und sie war nicht da. Irgendwann später rief sie an und sagte, sie sei rübergefahren, um die Kleine zu holen, aber die sei fest eingeschlafen, und sie wolle sie nicht wecken, sonst gehe das Gezerre wieder los. Sie habe sich überlegt, dass es das Beste sei, wenn sie auch über Nacht bleibe und dann am Morgen heimkomme.« Er sah Lynn an, die ihm aufmerksam zuhörte. »Ich weiß nicht, ab wann genau sie dann gar nicht mehr heimgekommen ist. Keine Ahnung. Wir hatten wahnsinnig viel Arbeit. Ehrlich gesagt war ich froh, wenn ich mich abends nach dem Heimkommen um nichts mehr kümmern musste, nicht um Debbie und nicht um das Kind. Ich wollte nur eine Weile rumsitzen und den Kopf frei kriegen und dann schlafen gehen, ohne damit rechnen zu müssen, dass mich vor dem Morgengrauen jemand aus dem Schlaf reißt.«
    Lynn hielt den Blick zum Boden gesenkt. »Mir scheint, du hast genau das bekommen, was du wolltest.«
    »Nein, das wollte ich bestimmt nicht.«
    »Du hast aber nicht versucht, es zu verhindern.«
    »Ich sag dir doch, ich hatte keine Ahnung …«
    »Was mit deiner eigenen Frau und deinem Kind los war?«
    »Schon gut.« Er war aufgestanden. »Dafür bin ich nicht hergekommen.«
    Lynn, ihm gegenüber, stand ebenfalls auf. »Wofür bist du denn hergekommen?«
    Die tiefe, warme Stimme der Sängerin, die sich immer von Neuem wiederholende Phrase, eine langsam sich steigernde Intensität. Sie hätten nicht mehr zu tun brauchen, als einen Schritt vorzutreten, die Hand auszustrecken und die Haut des anderen zu berühren.
    »Also?«, fragte Lynn.
    »Ich weiß nicht. Ich dachte …«
    »Was?«
    »Nein, ich weiß es nicht.« Mit einem Kopfschütteln trat er zurück und setzte sich wieder.
    »Du wolltest dich bei mir auskotzen, mir vorjammern, wie schlecht sie dich behandelt, und ich sollte dir brav zuhören und in allem recht geben.«
    »Wahrscheinlich.«
    »Okay, nach dem, was ich gehört habe, gebe ich dir recht. Bis zu einem gewissen Grad. Ich weiß nicht, was für ein Mensch Debbie ist, ich habe jedenfalls das Gefühl, dass es ihr schwerfällt, sich den Tatsachen zu stellen. Ich habe aber genauso das Gefühl, dass du ihr erlaubt hast zu fliehen.«
    »Sie hat meine Erlaubnis gar nicht gebraucht.«
    »Kann sein, aber vielleicht hätte sie jemanden gebraucht, der nein sagt. Vielleicht hätte sie sich das von dir gewünscht. Vielleicht hat sie die ganze Zeit darauf gewartet, dass du ihr sagst, wie es dir wirklich geht.«
    »Und das wäre?«
    »Das weiß ich leider nicht, Kevin, und wenn du selbst es nicht weißt, dann ist genau das möglicherweise Teil des Problems. Ich vermute jedenfalls, sie hat die ganze Zeit darauf gewartet, dass du sagst, hör mal, tu das nicht. Ich möchte dich hier bei mir haben. Ich möchte, dass wir beide hier sind, zusammen.«
    Naylor zündete sich am Stummel der vorigen

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