Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)
Sarah Vaughan und Billy Eckstine, dieser Song, der damals so populär war. Sie mussten inzwischen tot sein, die beiden, dachte Joan, oder, wenn sie noch lebten, in den Siebzigern. Vielleichtsogar in den Achtzigern. Sie meinte gehört zu haben, dass einer von beiden gestorben war, konnte sich aber beim besten Willen nicht erinnern, wer.
»Stephen, willst du kein Frühstück?«
Na schön, sollte er so tun, als hätte er nichts gehört. Sollte er doch den ganzen Tag da unten bleiben, wenn ihm danach war. Sie schloss die Kellertür, als der Schlussrefrain des Songs im schrillen Wimmern von Stephens Schleifgerät unterging.
›Passing Strangers‹, war es das gewesen?
Heute, sagte sich Joan, war ein guter Tag für Kleieflocken mit Früchten, am besten mit Aprikosen und Pflaumen.
»Was soll das sein?« Millington legte die ›Mail‹ weg und beugte sich über das Buch, in dessen ernsthafte Betrachtung seine Frau vertieft war.
»Der Maler nennt es ›Double Nude Portrait‹.«
Was Millington da über ihren Frühstückstisch ausgebreitet sah, war das Bild einer nicht mehr ganz jungen Frau, splitternackt, zurückgelehnt vor einem Gasfeuer. Ihre Brüste fielen nach beiden Seiten auseinander, ihre Beine waren gespreizt, ein Knie angezogen, und hinter ihr, eine Brille mit runden Gläsern auf der Nase, war ein ebenfalls nackter Mann mit leicht behaarter Brust und einem nach der Erektion erschlafften Penis, so sah es jedenfalls aus.
»Und das auf dem Frühstückstisch«, sagte Millington.
»Ich glaube, sie sitzen auf dem Boden, Graham.«
»Ja, das sehe ich auch, rösten sich vor dem Gas.«
»Ich glaube, es ist Öl, Graham.«
»Gas.«
»Unsere Lehrerin sagte, es sei Öl. Ein Vector-Ölofen. Der dem Künstler selbst gehörte.«
»Ach ja? Und was sagt eure Lehrerin sonst noch so zu dem Bild?«
»Sie sagt, es handele sich um einen Akt religiöser Kontemplation.«
»A ja. Und was ist das da unten? Schaut aus wie ein rohes Stück Fleisch.«
»Das ist eine Lammkeule. Oder war es Hammel?«
»Wahrscheinlich auch religiös, was?«
»Ich glaube, es soll einen Kontrast darstellen, das eine ist nur zum Essen und das andere …« Sie brach ab und wurde ein wenig rot. »Ich weiß es nicht mit Sicherheit, Graham.«
»Nein, nein, du hast es ziemlich richtig erfasst, glaube ich.« Er beugte sich tiefer über den Titel. »Stanley Spencer. ›Double Nude Portrait. Der Künstler und seine zweite Frau‹. Deine Lehrerin hat wohl nicht zufällig was darüber gesagt, wie er seine erste losgeworden ist?«
Vor dem Victoria-Erlebnisbad an der Ecke hinter dem Großhandelsmarkt roch es nach verfaulendem Gemüse und Armut; drinnen roch es nach Chlor und Deo. Divine hielt seinen Dienstausweis vor die Glasscheibe an der Kasse, und als die junge Frau aufsah, schob er eine Kopie der Zeichnung durch die Öffnung.
»Und?«, fragte sie und tat so, als merkte sie nicht, dass Divine sich fast den Hals verrenkte, um ihr in den Ausschnitt zu sehen.
»Kennen Sie ihn? Kommt er öfter her?«
Sie hielt die Zeichnung dichter vor ihre Augen. Kann nicht viel älter als achtzehn sein, dachte Divine, da müsste sie eigentlich besser sehen.
»Ja, ich glaube«, sagte sie.
»Er kommt öfter?«
»Ja, ich bin ziemlich sicher.«
»Und ziemlich hübsch sind Sie auch«, versetzte Divine.
Sie antwortete mit einem Blick, bei dem sich jedes Frettchen getrollt hätte.
»Also, was?«, hakte Divine nach, der sich nicht so leicht abschrecken ließ. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. »Kommt er zum Schwimmen her, oder was?«
»Ja, er kommt zum Schwimmen. Ich bin ziemlich … ich bin fast sicher.« Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und rief ins Hinterzimmer: »Les, dieser Mann da, der kommt doch regelmäßig her, oder?«
Les erschien mit zwei Stapeln Badetüchern in den Armen, ein kräftiger Mann in den Fünfzigern mit ergrautem Haar. »Hab ich noch nie gesehen«, erklärte er, den Blick durch die Scheibe auf Divine gerichtet.
»Der doch nicht«, sagte die junge Frau. »Ich meine den hier.«
»Ach so.« Er legte die Badetücher ab und nahm die Zeichnung zur Hand. »Ja, der ist zwei-, dreimal in der Woche hier. Im Hauptbecken.«
»Haben Sie eine Ahnung, wann er das letzte Mal hier war?«, fragte Divine.
Les und die junge Frau sahen sich an, schüttelten die Köpfe.
»Am Sonntag?«
Les nahm seine Badetücher wieder auf. »Kann sein, ja.«
»Haben Sie da gearbeitet?«
»Ich? Nein, am Sonntag nicht. Ich arbeite nur alle vier Wochen am Sonntag.« Er zeigte
Weitere Kostenlose Bücher