Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)
sehr wahrscheinlich. Ich hätte unter Eid aussagen müssen, dass er der Mann ist. Was hätte es geholfen, wenn ich nur hätte sagen können, hm, ja, ich glaube, er war’s oder er hätte es gewesen sein können?«
Resnick seufzte und hob sein Glas zum Mund. Zu seiner Linken zeigte jemand seine Fotos aus Barcelona herum.
»Aber jetzt sagen Sie es mir.«
»Das ist etwas anderes.«
»Finden Sie?«
»Werden Sie ihn jetzt festnehmen?«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Und wenn ich ihn heute Nachmittag ›identifiziert‹ hätte?«
»Höchstwahrscheinlich.«
Vivien trank ihren Wodka aus. »Außerdem«, bemerkte sie, »ist das System nicht gerade fair.«
»Wieso nicht?«
»Wie dieser Mann heute Nachmittag geschwitzt hat, der war halb tot vor Angst. Die anderen dagegen waren alle nur angeödet.«
Resnick leerte sein Glas. »Noch einen?«, fragte er in der Erwartung, dass sie ablehnen würde. Aber sie reichte ihm ihr Glas und überließ es ihm, sich zum Tresen durchzukämpfen. Vielleicht gehörte das zu dem Thema Frauen und Utopie? Dass sie sich von den Männern bedienen und dann auch noch die Getränke zahlen ließen.
Ihre Wohnung war ganz oben in einem dieser riesigen viktorianischen Häuser in der Nähe des Stadtzentrums, mit Gaubenfenstern, die aus dem flach abfallenden Dachhervorsprangen. Das große Zimmer war weiß gestrichen und hatte hohe Wände. Es war schmucklos bis auf ein paar Bilder in Postkartengröße, Schwarzweißfotografien oder Stiche, in übergroßen Rahmen.
»Meine Kollegen lachen mich aus«, bemerkte sie. »Werfen mir vor, ich wollte hier zu Hause ein zweites Kanada erschaffen.«
Ihre Einladung zum Kaffee hatte Resnick überrascht; und ihrer Miene nach war sie beinahe genauso überrascht gewesen, als er annahm. Sie war, wie sich herausstellte, nicht mit dem Wagen gekommen. »Ich dachte, ich könnte Sie dazu überreden, mich heimzufahren«, sagte sie. »Früher oder später.«
Sie legte Musik auf, irgendetwas Klassisches, von einer Frau gesungen, aber leise genug, um nicht zu stören. Sie hatte weniger Bücher, als Resnick erwartet hätte, und die waren in ziemlich unordentlichen Stapeln auf dem Boden verteilt. Ein runder Tisch unter dem Fenster war mit Bergen von Papieren, fotokopierten Artikeln und Zeitschriften beladen. Abgesehen von einem niedrigen zweisitzigen Sofa waren die einzigen Sitzgelegenheiten schwarze Regiestühle. Der Fernseher, wenn es einen gab, stand vermutlich im Schlafzimmer; es hätte Resnick interessiert, ob der Raum auch so asketisch war.
Den Kaffee tranken sie aus hohen, schmalen Tassen, außen schwarz und innen weiß.
»Milch? Zucker?«
Resnick schüttelte den Kopf.
Vivien setzte sich ihm gegenüber auf das kleine Sofa und zog die Beine unter ihrem Rock hoch. »Niemand, der auf Sie wartet?«, fragte sie.
Nur die Katzen hätte nach Selbstmitleid geklungen. »Nein«, antwortete Resnick.
»Gibt es da nicht irgendeine ganz schreckliche Statistiküber die Anzahl von Polizistenehen, die mit Scheidung enden?«
»Ach tatsächlich?«
Sie merkte an seinem scharfen Ton, dass sie ins Fettnäpfchen getreten war, aber Rückzug war nicht ihre Art. »Sie waren verheiratet?«
»Das ist lange her.«
»Und – haben Sie Kinder?«
Sein Gesicht sagte alles. Da waren Worte gar nicht nötig. Resnick starrte sie nur an und sagte keinen Ton. Er trank seinen Kaffee aus und stand auf. Galt sein Ärger eher ihr und ihren Fragen oder ihm selbst und seiner nachtragenden Empfindlichkeit?
»Nehmen Sie es mir nicht übel«, sagte Vivien, »das kommt davon, wenn man immer vor Studenten steht und doziert, manchmal mache ich wochenlang nichts anderes, glauben Sie mir. Da verlernt man es, normale Gespräche zu führen.«
»Macht nichts«, antwortete Resnick. »Tut mir wahrscheinlich ganz gut, zur Abwechslung mal ein Verhör von der anderen Seite zu erleben.«
»Sie haben es wirklich als Verhör empfunden?«
»Vergessen wir es doch einfach, hm?« Und er ließ Vivien mit der Kaffeetasse in der Hand stehen.
40
»Ich war gestern Nachmittag bei den Morrisons.«
Der Löffel blieb kurz vor Stephens Mund in der Luft hängen. Joan stand hinter ihrem Mann, dicht an seiner rechten Schulter, in ihren Bademantel eingepackt, noch ganz warm von ihrem Bad.
»Nach der Schule. Der Vater war nicht da, aber die Mutter. Ich habe mit ihr gesprochen und ihr gesagt, wie entsetztich bin, wie entsetzt wir alle in der Schule sind. Na ja, es war nicht die richtige Mutter, es war die Stiefmutter, aber trotzdem.« Sie
Weitere Kostenlose Bücher