Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)
heiß, er machte sich einen Kaffee und nahm ihn mit in sein Büro, wo er seine Gespräche mit Stephen Shepperd noch einmal rekapitulieren wollte. Beinahe ärgerlich ertappte er sich dabei, dass er stattdessen über Vivien Nathanson nachdachte; über das Gedicht, das sie gelesen hatte. Widerstrebend machte er die Schublade auf, nahm das Buch heraus und suchte die Seite. Unendliche, unergründliche Begierden.
39
Lorraine hatte an diesem Tag dreimal mit ihrer Mutter gesprochen; Michael hatte von der Arbeit aus zweimal angerufen, beim zweiten Mal von einem Mobiltelefon aus, das ständig gestört war und seine Worte zu einer Abfolge unzusammenhängender Laute zerhackte. Jemand, der behauptete, eine der großen Boulevardzeitungen zu vertreten,hatte ihr fünfzehntausend für ihre Story einer gramgebeugten jungen Mutter geboten, Exklusivrecht natürlich, tausend sofort, viertausend, wenn die Leiche gefunden wurde, den Rest bei Veröffentlichung. Val Patterson war wie gewohnt auf einen Kaffee und einen Schwatz vorbeigekommen und lange genug geblieben, um die halbe Packung von Lorraines Schokokeksen zu verdrücken – »Das ist der letzte, ich schwör’s, ich muss an meine Figur denken« – und das Haus mit ihren Zigaretten vollzuqualmen – »Die letzte, ich schwör’s, ich muss an meine Lunge denken«. Der zweite Filialleiter von der Bank hatte angerufen, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen – »Nein, bleiben Sie zu Hause, bleiben Sie, bis Sie so weit sind, dass Sie selber wieder zur Arbeit kommen wollen. Es ist Ihre Entscheidung. Sie entscheiden ganz allein.« Lorraine hatte versucht, Lynn Kellogg bei der Polizei zu erreichen, entweder sie oder Inspector Resnick, aber beide waren beschäftigt gewesen. Sie hatte die Vorhänge im Schlafzimmer abgenommen, sie wollte sie neu füttern, hatte das schon seit Ewigkeiten vor, und jetzt lagen sie in einem Haufen neben der Nähmaschine, aufgetrennt und seither nicht mehr angerührt.
Als es draußen klingelte, glaubte sie im ersten Moment, es wäre Michael, der früher nach Hause kam, obwohl, dachte sie, als sie die Treppe hinunterlief, warum hat er nicht seinen Schlüssel mitgenommen? Erstaunt sah sie die Frau an, die vor der Tür stand, denn sie erkannte sie, so aus dem Zusammenhang gerissen, nicht gleich als eine von Emilys Lehrerinnen.
»Mrs Morrison, Joan Shepperd. Ich hoffe, mein Besuch kommt Ihnen nicht ungelegen.«
»Oh. Nein. Natürlich nicht. Ich …«
»Ich wollte schon früher kommen. Wirklich, nur …«
Man hätte sie für Mutter und Tochter halten können, wie sie da einander gegenüberstanden und verlegene Blicketauschten. »Bitte«, sagte Lorraine schließlich, »kommen Sie doch herein.«
»Danke, ich wollte wirklich nicht …«
»Nein, bitte, kommen Sie.«
Während Lorraine Teewasser aufsetzte, machte Joan Shepperd Komplimente über das Haus, die praktische Küche, das Muster des Porzellans und fragte sich dabei die ganze Zeit, warum sie hergekommen war, was genau sie hier zu finden hoffte.
»Emily war ein …« Sie brach ab, um sich zu korrigieren. »Sie ist ein aufgewecktes Kind, an allem interessiert. Man sieht deutlich, welche Fortschritte sie seit Beginn des Schuljahrs gemacht hat.«
Lorraine lächelte.
»Sie haben nichts gehört?«
»Nein.«
»Und Sie haben keine Ahnung?«
»Nein, überhaupt keine.«
Joan trank Tee, erkundigte sich nach Michael, nach Emilys Mutter. »Sie ist in der Klinik«, antwortete Lorraine. »Es geht ihr schon seit einiger Zeit nicht gut. Ich glaube, sie weiß noch nicht, was passiert ist.«
Als Joan Shepperd aufblickte, sah sie die Tränen in Lorraines Gesicht. »Es tut mir so leid«, sagte sie. »Ich hätte nicht kommen sollen. Es war gedankenlos von mir, es wühlt Sie nur auf.«
»Nein, nein.« Lorraine schüttelte den Kopf. »Mir passiert das dauernd. Manchmal merke ich es nicht einmal.« Sie holte ein zerknülltes Papiertaschentuch heraus und zog es auseinander. »Gestern, als ich den Fensterputzer bezahlen wollte, ist es mir genauso gegangen. Er stand da und starrte mich an. Ich hatte überhaupt nicht gemerkt, dass ich weinte.«
Sie tupfte sich die Wangen und die Augen, schnäuztesich und fragte Joan Shepperd, ob sie noch eine Tasse Tee wolle.
»Nein, danke, wirklich nett von Ihnen.« Sie war selbst überrascht, als sie Lorraines Hand berührte. »Ich wollte Sie nur wissen lassen, wie leid es mir tut. Ich denke sehr viel an Emily.«
Die Tränen schossen Lorraine wieder in die Augen und sie trat ans
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