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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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könnte.
    Eigentlich war ihr das zwar relativ egal, aber in diesem Fall hätte der Baum mit ziemlicher Sicherheit das Fenster zum Kinderzimmer zerschlagen, und das hätte sie nicht ertragen. Eine Nacht, in der ein eisiger Wind durch Felix' Zimmer und über sein Bett pfiff, war für sie eine schreckliche Vorstellung.
    Anne hatte in ihrem Zimmer am Computer gesessen, war ziellos im Internet herumgesurft und wollte jetzt nach unten gehen, um ein bisschen fernzusehen, solange der Strom noch da war.
    Im Sessel saß Harald. Im ersten Moment erschrak sie, weil sie dachte, er wäre — wie fast jeden Samstag — im »Störtebeker« zum Skatspielen. Aber er war nicht beim Skat, er saß im Wohnzimmer und sah sie an. Er hatte kein Glas in der Hand, keine Zeitung, kein Buch, keine Fernbedienung, nichts. Er saß einfach nur da. Sie war etwas verunsichert, aber sie fragte ihn auch nicht, was los war. Sie nahm die Fernsehzeitung, warf einen Blick hinein und wollte an ihm vorbeigehen, um den Fernseher einzuschalten. In diesem Moment griff er ihren Arm und zog sie auf seinen Schoß. Nach so langer Zeit zum ersten Mal. Er hielt sie mit seinen starken Armen fest umschlungen. Es tat so unbeschreiblich gut. Anne hatte das Gefühl, seit Tagen im Ozen zu treiben, und endlich kam jemand, der sie. in ein Boot zog, in eine Decke hüllte und das Blut in den erfrorenen Gliedern wieder zum Pulsieren brachte. Sie wünschte sich Stunden, Tage so bei ihm liegen zu bleiben, aber es waren nur Minuten. Beide hatten immer noch kein Wort gesagt, als er sie einfach hochhob und nach oben ins Schlafzimmer trug.
    Man konnte nicht behaupten, dass nun das Glück in das friesische Arzthaus eingezogen wäre, aber beide redeten wieder miteinander, zumindest über die wichtigsten, die organisatorischen Dinge. Das trug sehr zur Entspannung bei, die Atmosphäre war nicht mehr derart zum Zerreißen gespannt, dass man das Gefühl haben musste, das Haus würde explodieren, wenn jemand »Guten Morgen« sagte oder wenn es an der Tür klingelte. Anne fürchtete sich nicht mehr davor, Harald morgens in der Küche oder im Bad zu begegnen, sie lernte sogar langsam, ihm zur Begrüßung zuzulächeln.
    Allmählich wusste sie wieder, was der Begriff »zu Hause« eigentlich bedeutete, sie schwebte nicht mehr im luftleeren Raum, von der Trauer gänzlich aufgelöst. Sie hatte wieder einen Körper, war wieder eine Frau. Harald hatte sie dazu gemacht.
    Da Anne dieses Haus wieder als ihr Nest und ihre Fluchtburg akzeptieren konnte, fing sie an zu putzen. Sie schrubbte die Fußböden, behandelte die Teppiche mit Teppichschaum, überstrich klein e Schönheitsfehler an den Wänden mit weißer Farbe, scheuerte die klebrigen Gewürzregale, wischte die Schränke aus und wusch die Gardinen. Und fühlte sich von Tag zu Tag wohler.
    Manchmal musste sie mitten in der Arbeit innehalten, weil sie ein Ziehen im Unterleib hatte. Es war unangenehm und ungewohnt. Etwas Derartiges hatte sie schon ewig nicht mehr gespürt. Jedes Mal ging sie zur Toilette, um zu sehen, ob ihre Tage eingesetzt hatten — aber da war nichts. Und langsam keimte in ihr ein Gedanke, den sie schon jahrelang nicht mehr gehabt hatte. Ein Gedanke, der ihr während ihrer Schul- und Studienzeit ständig Albträume verursacht hatte. Bis sie Harald kennen gelernt und zum ersten Mal das Gefühl gehabt hatte, an den Richtigen geraten zu sein. Sie hängte ihr Studium an den Nagel, heiratete Harald und bekam Felix. Plötzlich war alles normal und legal und nicht mehr schmutzig und verboten. Sie war keine Schlampe mehr, sondern eine Mutter, die von Eltern, Freunden, Bekannten und dem Staat ihren
    Segen erhalten hatte. Ein beruhigendes Gefühl. Danach nahm sie ein paar Jahre die Pille, und als sie sie absetzte, hatten sie in ihren Sexualpraktiken andere Prioritäten gesetzt, die einfach eine Schwangerschaft verhinderten. Anne fühlte sich wohl dabei und hatte auch nie den Eindruck, dass Harald irgendetwas fehlte.
    Der Gedanke, dass er etwas vermisst haben könnte, kam ihr zum allerersten Mal, als Pamela aus der Versenkung auftauchte.
    Und nun plötzlich dieses ständige Ziehen und dieses komische Gefühl. Und ihre Tage waren schon eine Woche überfällig. Natürlich hatten sie nicht aufgepasst an diesem stürmischen Januarabend. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, sich wieder neu kennen zu lernen und zu erobern und die schwache Glut einer erloschenen Liebe neu zu entfachen. Als die Leidenschaft wieder zu lodern begann, verloren beide

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