Der Kindersammler
rückgängig zu machen war.
»Dann sag mir Bescheid, wenn es so weit ist. Falls nicht gerade eine Sommergrippe-Welle anrollt, komme ich.«
»Das ist nett von dir.«
Beide schwiegen erneut. Die Verlegenheit auf beiden Seiten war deutlich, und Anne beendete das Gespräch. Es gab nichts mehr zu sagen.
Anne ging langsam zurück zum Haus und dachte unwillkürlich an die Geschichte mit Pamela zurück, obwohl sie es heute fast lächerlich und ihre Reaktionen damals reichlich kindisch und übertrieben fand. Heute würde sie sicher kein Saxofon mehr im Aquarium versenken, heute würde sie sich an ihren Schminktisch setzen, sich viel Zeit für ein sorgfältiges Make-up lassen, den Lippenstift auftragen, der ihm noch nie gefallen hatte, und sich ihrerseits auf die Suche machen. Ein Quickie wäre nicht schlecht, vielleicht würden
auch drei oder vier oder fünf daraus werden—je nachdem. Wie du mir, so ich dir. Du weißt ja gar nicht, wie weh so was tut.
Damals, in diesem verfluchten Jahr vor zehn Jahren, verlor sie alles, was ihr einmal wichtig gewesen war. Den Sohn und häppchenweise auch den Mann. Und sie hatte keine Freundin, keine Schwester mehr. Das lag nicht an Pamela. Pamela war ein Nichts und ein Niemand. Pamela war keine wirkliche Freundin. Anne hatte sie benutzt und ausgenutzt. Wahrscheinlich wusste sie das und hatte darum auch keine Skrupel. Pamela war unglaublich bequem und praktisch, vollkommen anspruchslos und immer verfügbar. Pamela war wie ein Hund, der schwanzwedelnd mit einem Fremden Gassi geht.
Irgendwie und unmerklich hatte sich die Sache mit Pamela verläppert. Harald und Anne waren verstummt, sie sprachen über nichts mehr. Und so unterblieben auch die Fragen: »Wo kommst du denn jetzt um diese Zeit her? Es ist kurz vor eins!« oder: »Hat es bei Frau Hansen derart verflucht lange gedauert?« oder: »Seit wann gehst du zum Kegeln, du hast dich doch früher nicht dafür interessiert?« Es war alles egal. Anne fragte nicht, und er sagte nichts. Harald erwähnte auch den Namen Pamela nie wieder, und Anne hatte sie aus ihrem Leben gestrichen. Sie vergaß sie sogar zeitweise. Für Anne existierte Pamela nicht mehr.
Pamela zeigte sich Harald gegenüber von ihrer sensiblen Seite. Oder von ihrer zickigen. Wie man's nimmt. Manchmal stellen sich beide Eigenschaften deckungsgleich dar. Natürlich war sie wütend wegen des Saxofons, aber das Schlimmste war, dass Anne sie geschlagen hatte. Diese Demütigung konnte sie nicht ertragen. Wie sehr sie ihre Freundin gedemütigt hatte — daran dachte sie natürlich nicht.
Anne bekam sie jedoch nicht mehr zu fassen, und Pamela hatte keine Gelegenheit, Anne ihren Hass und ihre Verachtung spüren zu lassen. Aber Harald erreichte sie. Er lag ihr immer noch zu Füßen, versuchte, ihr das Verhalten seiner Frau zu erklären, und kaufte ihr ein neues Saxofon. Aber sie war so eindimensional gestrickt dass sie nicht anders konnte, als ihre Wut auf ihn zu projizieren. Er verlor an Attraktivität, weil er mit Anne verheiratet war. Sie nahm ihm übel, dass er die gleiche Adresse hatte wie sie. Er konnte ihr zehntausendmal beteuern, dass mit Anne zu dieser Zeit weniger als nichts lief—sie glaubte ihm kein Wort. Der Herr Doktor war der Mann einer Irren, einer Gewalttätigen, der Herr Doktor tanzte auf allen Hochzeiten, aber niemals im richtigen Takt. Zu keinem Zeitpunkt spürte sie, dass sie mit Leichtigkeit hätte siegen können, sondern sie redete sich so lange ein, dem Herrn Doktor nicht mehr über den Weg trauen zu können, bis sie ihn schließlich verlor. Er hatte es satt, ihre Spitzen und Bösartigkeiten ständig anhören zu müssen, er hatte es satt, auf dem Markt schief angeguckt zu werden. Er war im Dorf nicht mehr der Vater, der seinen Sohn verloren hatte, sondern der, der mit einer Frau schlief, die auf dem Feuerwehrball immer sitzen blieb, wenn alle anderen tanzten.
Er machte ihr keine Szene. Er wollte keine Aussprache, er ging einfach nicht mehr hin, und die Affäre schlief so unspektakulär ein, wie sie begonnen hatte. Anne bemerkte es erst viel später. Als die Hindemith-CD aus dem Schrank verschwunden war.
Anne lebte zu dieser Zeit wie ein Roboter. Lächelte, wenn jemand die Praxis betrat, und lächelte, wenn er wieder ging. Sie nahm Blut ab, untersuchte Urinproben, ordnete die Patientenkartei und flötete: »Frau Soundso, kommen Sie bitte ... « Sie öffnete und schloss zigmal am Tag die Kabinen eins und zwei — »wenn Sie sich bitte obenrum schon mal frei
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