Der Kindersammler
fast den Verstand. Und schließlich lag sie in seinen Armen. Weinend. Endlich ins Leben zurückgekehrt.
Nach acht Tagen machte Anne den Test. Als der Teststab auf ihrem Schreibtisch lag, tigerte sie minutenlang durch die Wohnung, unfähig zu lesen oder irgendetwas Sinnvolles zu tun, und versuchte herauszufinden, was sie sich wünschte. Ja oder nein, positiv oder negativ, ein Problem oder kein Problem, etwas Neues oder alles beim Alten. Sie wusste es einfach nicht. Nach fünf endlosen Minuten zwang sie sich ins Arbeitszimmer zu gehen. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, ihr Gesicht glühte, und sie konnte kaum laufen, so weich waren ihre Knie. Sie fühlte sich wie eine Angeklagte, die das Urteil der Geschworenen erwartet: schuldig oder nicht schuldig.
Ein kurzer Blick genügte. Der Test war klar und eindeutig. Schuldig. Es blieb eben nie ohne Folgen, wenn man den Kopf verlor.
Felix war verschwunden, aber nun machte sich ein neues Kind auf den Weg. Und da war auf einmal nicht das geringste Gefühl. Nur Fassungslosigkeit.
Am Sonntag darauf machten Anne und Harald einen Spaziergang. Der Herr Doktor und seine Gattin wanderten durchs Dorf wie schon seit einem Dreivierteljahr nicht mehr. War Pamela ein Thema für den Dorfklatsch gewesen, so war es jetzt sicher diese offensichtliche und zur Schau gestellte Versöhnung. Anne hoffte nur inständig, dass nicht gerade jetzt das Handy klingelte und Harald wegmusste, weil der alte Knut sich das Bein gebrochen, Johann vorn Trecker gefallen war oder die klein e Meike einen Blinddarmdurchbruch hatte. Sie wollte mit ihm reden. Gleich. Auf dem Deich. Mit dem Blick aufs Meer. Oder aufs Watt. Je nachdem, ob das Wasser da war oder nicht.
Das Wasser war nicht da. Er hatte den Arm um ihre Schulter gelegt, und sie gingen langsam auf dem Deich entlang, rechts die Winterwiesen mit vereinzelten Schafen und links der braun-graue Wattschlamm so weit das Auge reichte. Und dann sagte sie es ihm.
Erst starrte er sie an, als wäre sie quittegrün und gerade aus einem Ufo gestiegen, dann stieß er einen Schrei aus, riss die Arme in die Höhe, als wolle er den lieben Gott aus dem Himmel zerren und an sich drücken, dann lachte er laut, hob Anne in die Höhe und wirbelte sie ein paarmal im Kreis herum, sodass sie flog wie ein Kettenkarussell, dann brüllte er: »Das ist ja großartig!« und machte Purzelbäume den Deich hinunter, kam immer mehr ins Trudeln, bis er völlig erschöpft, strahlend und schwer atmend vor dem Weidezaun liegen blieb.
Der Herr Doktor rollt sich in Schafscheiße, dachte Anne und fand die Vorstellung ihres eigentlich sehr bedächtigen Mannes, der sonst immer mit beiden Beinen fest im Leben stand, umwerfend.
Er war völlig aus dem Häuschen. Er freute sich, er machte Pläne, er träumte, er war restlos glücklich. Felix war vergessen. Es fing alles noch mal von vorne an. Ein neues Kind — ein neues Glück. Und diesmal würde er aufpassen. Richtig. Rund um die Uhr. So etwas würde ihm nicht noch einmal passieren. Dieses Kind würde er aufwachsen sehen. Es würde heiraten und studieren. Enkelkinder würden auf seinen Knien tanzen, und dieses Kind würde nach ihm sterben. Lange, lange nach ihm. Wie es sich gehörte.
Anne wurde immer stiller. Je mehr er redete, umso mehr sträubte sich etwas in ihr. Als er schließlich anfing zu erzählen, wie er Felix' Zimmer umbauen, umstreichen, neu möblieren wollte, stand ihr Entschluss fest. Auch wenn sie Harald damit das Herz brechen würde.
Als Harald in seiner winzigen Werkstatt im Keller anfing, eine Wiege zu bauen, sagte Anne ihm, er solle damit aufhören. Es werde kein neues Baby geben. Harald legte so langsam sein Werkzeug aus der Hand, als würden ihm gerade in diesem Moment fünfzig Gedanken durch den Kopf schießen und als versuche er, sie alle in dieser Sekunde zu ordnen. Aber er hatte verstanden und war nicht in der Lage, irgendetwas zu sagen.
Und dann begann eine neue Zeit des Schweigens, nur unterbrochen von knappen Bemerkungen, barschen Fragen und kurzen Befehlen. »Hat jemand angerufen?« — »Wieso hast du kein Brot gekauft? Ich hatte es dir gesagt!« — »Räum den Wintergarten leer! Ich brauche den Platz!« — »Wo ist die Stromrechnung? Sie lag auf dem Tisch!« — »Hör zu, dann weißt du auch, was ich meine!«
Harald trauerte um ein Wesen, das er noch nicht kannte, Anne um einen Sohn, den sie zehn fahre lang geliebt hatte. Er trauerte um ein Leben, das er gerade wieder neu beginnen wollte, sie um ein Leben, das
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