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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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machen würden ...« — und wusste schon nach wenigen Minuten nicht mehr, wer in welcher Kabine war. Sie machte Termine, stellte Telefonate zu Harald durch, gab gute Ratschläge, hörte sich Klatsch und Tratsch an und wusste am Abend nicht mehr, wer in der Praxis gewesen war.
    Wenn sie kochte, kochte sie die gleichen Mengen wie früher, aber es waren kaum zu bewältigende Berge, weil Felix nicht mehr da war und sie selbst nicht mitaß. Harald beschwerte sich nie. Wenn er aus der Praxis kam, machte er sich einen Teil davon warm und aß vier, fünf Tage lang dasselbe. Ohne Murren. Vielleicht merkte er genauso wenig wie sie, was er aß. Nach dem Mittagessen legte er sich immer bis drei auf die Couch im Wohnzimmer, faltete die Hände überm Bauch, schloss die Augen und lag bewegungslos da. Man konnte ihm nicht ansehen, ob er schlief, einfach nur nachdachte oder tot war.
    Um 15 Uhr begann er mit den Hausbesuchen, um sechzehn Uhr dreißig war er wieder in der Praxis. Wenn etwas Unvorhergesehenes passierte, kam er auch schon mal später. Die Patienten hatten Verständnis dafür, weil sie es zu schätzen wussten, dass sie sich nicht in die Praxis quälen mussten, wenn sie mit vierzig Grad Fieber im Bett lagen.
    Am Abend ging Harald fast immer weg. Er hielt es zu Hause nicht aus. Das Schweigen brachte ihn fast um den Verstand. Sie fragte ihn nicht, wohin er ging und wann er wieder kam, es interessierte sie einfach nicht. über Handy war er immer zu erreichen. Für die Patienten und für Anne. Aber sie rief nie an. Einmal ertappte sie sich dabei, dass sie seine Handynummer bereits vergessen hatte. Es war ihr peinlich, nachschlagen zu müssen, als eine Nachbarin sie darum bat, weil ihr Mann starke Bauchschmerzen bekommen hatte.
    Sonntags besuchten sie regelmäßig Annes Eltern in Hamburg, die ein kleines Reihenhaus in der Nähe des Flughafens hatten. Anne machte es wahnsinnig, dass jedes Gespräch alle paar Minuten durch das Dröhnen der landenden oder startenden Maschinen unterbrochen wurde, und die Tassen auf dem Tisch auf den Untertassen hüpften und schepperten, aber ihre Eltern hörten es schon nicht mehr. Das lag nicht daran, dass sie taub geworden waren, aber sie hatten sich dermaßen daran gewöhnt, dass sie es einfach nicht mehr registrierten. Man gewöhnte sich offenbar an alles . Das wenigstens war ein tröstlicher Gedanke.
    Dennoch waren diese Sonntagnachmittage schwer auszuhalten. Denn unweigerlich kam das Gespräch doch immer wieder auf Felix, obwohl Harald und Anne es zu vermeiden suchten und jedes Thema geschickt umschifften, das darauf hinauslaufen könnte. Aber Annes Mutter schaffte es, jeden Sonntag in Tränen auszubrechen, und stellte dabei immer die gleichen Fragen, die ihr niemand beantworten konnte. Das dauerte meist eine halbe Stunde. Während Mutter schluchzte, nahm Vater eine Illustrierte und blätterte sie durch. Sein Mund war nur noch ein scharfer Strich, seine Lippen waren verschwunden. Man hätte keine Briefmarke dazwischen schieben können. Harald fixierte die Tischdecke und rührte in seinem Kaffee, obwohl gar kein Zucker darin war. Er rührte zwanzig Minuten oder länger. Bis Mutter fertig war.
    Annes Mutter konnte weinen—Anne nicht. Sie konnte sich auch mit einem Stück Kirschkuchen trösten — Anne nicht.
    Sie hatte niemand, mit dem sie reden konnte, aber sie wollte auch niemanden haben. Es war wie mit einem Erdbeben: Eine Woche lang wird im Fernsehen darüber berichtet, und die Anteilnahme ist groß — dann ist die Katastrophe vergessen, obwohl die Betroffenen noch jahrelang unter den Folgen leiden. Das ist so und wird wohl auch immer so sein, weil jedes Leid den Außenstehenden auf die Nerven geht, wenn sie immer und immer wieder davon hören müssen. Das hält kein Mensch aus. Irgendwann verwandelt sich Mitleid dann in Ablehnung und Aggression. Kein Freund und keine Freundin hätte sie ertragen, wenn sie monatelang von Felix geredet hätte. Also versuchte sie es erst gar nicht und Hieb mit ihren Gedanken allein. Sie freute sich immer auf die Minuten vor dem Einschlafen. Dann war sie in Gedanken bei Felix, und keiner störte sie dabei. Und jedes Mal betete sie um einen Traum, in dem er bei ihr sein konnte.
    Es war an einem Winterabend Ende Januar. Ein Samstag. Das genaue Datum hatte sie vergessen. Es war verdammt kalt, weil es so windig war. Der Sturm heulte ums Haus, die alte Kastanie vor dem Küchenfenster ächzte bedenklich. Anne hatte Angst, dass sie aufs Dach krachen

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