Der Kindersammler
versucht sie aufzuspießen. Ihre Brust schmerzte, sie spürte förmlich die Eisenspitzen, die in ihrem Fleisch steckten, und sie rannte, um diesem Schmerz zu entfliehen.
Sie rannte eine Stunde oder länger, sie wusste es nicht, weil sie nicht darauf achtete. Der Schmerz in ihrer Brust wurde immer stärker. Ich sterbe, dachte sie, und rechnete jeden Moment damit, dass ihr Herz aufhören würde zu schlagen. Aber es hämmerte unermüdlich und immer stärker in ihrer Brust, das Blut pulsierte hinter ihrer Stirn.
Plötzlich blieb Allora stehen. Sie schnaufte und versuchte, ihren rasenden Atem zu beruhigen. Nach einigen Sekunden hatte sie sich einigermaßen beruhigt und stand vollkommen unbeweglich. Nur ihre Nase kräuselte sich, und ihre Nasenlöcher blähten sich auf wie die Nüstern eines Pferdes. Sie hatte Trüffel gerochen.
Allora fiel auf die Knie und schnüffelte den Waldboden ab. Unter einer krüppeligen Eiche, deren Schösslinge sich nach allen vier Himmelsrichtungen reckten, war der Geruch für Allora so intensiv, dass sie sich die Nase kratzen musste, bevor sie anfing zu graben.
Der prächtige Sommertrüffel, den sie aus dem Waldboden grub, war so groß wie ein Katzenkopf und mit groben, schwarzen Warzen übersät. Allora lehnte sich an die Eiche, streckte ihre Beine weit von sich und grunzte behaglich. Sie hatte keine Schmerzen mehr, so sehr freute sie sich, dass sie wieder einmal ihren Lieblingspilz gefunden hatte.
Zuerst leckte sie ihn sorgfältig sauber, spuckte die Erde aus und zerkaute danach einige Eichenblätter, um den bitter-säuerlichen Geschmack des Waldbodens loszuwerden. Und dann begann sie, langsam und genüsslich an dem Pilz zu nagen, und dachte an Enrico, von dem sie nicht wusste, wie er hieß.
Es musste jetzt ungefähr zehn Jahre her sein, als sie ihn bei ihren Streifzügen zum ersten Mal bemerkt hatte. Von da an war sie ihm oft hinterhergelaufen, weil sie ihn so schön fand. Schöner als all die andern, zu denen sie sich ins Bett legte. Sie sah ihn, wie er nackt durch den Fluss watete, bis zu einer Stelle, in der sich das Wasser staute wie in einer kleinen Badewanne. Wenn er sich wusch, rieb sie sich zwischen den Beinen, bis sie wohlig wegsackte und einschlief.
Er war der erste Mensch, bei dem sie so etwas spürte wie Scham. An den sie sich nicht herantraute, den sie nicht ansprach, dem sie sich nicht zeigte. Er war für sie etwas ganz Besonderes, er hatte Kraft und Schönheit, ein Engel eben.
Vor zehn Jahren, als er die Ruine in Valle Coronata in ein fantastisches Haus verwandelte, kam sie fast jeden Tag und beobachtete ihn bei der Arbeit. Sie wartete auf den Moment, wenn er sich die staubigen Sachen auszog, uni sich im Bach zu waschen. Er war immer allein. Trug Steine, Zementsäcke und ganze Balken auf seinen Schultern. Meistens sogar im Laufschritt, als könne ihm kein Gewicht dieser Welt etwas anhaben.
Wenn er bei Einbruch der Dunkelheit aus dem Tal verschwand, ging sie ins Haus, strich mit der Hand sanft über die frisch verputzten Wände und stellte sich vor, es wäre seine Haut. Sie streichelte die unverputzten Mauersteine, die aus der Wand herausragten und bildete sich ein, es wären seine Muskeln, seine Arme, sein Hintern. Dann saß sie in der Dunkelheit auf der Treppe, die von der Küche ins obere Stockwerk führte, und wünschte, er würde ganz still hereinkommen und sich neben sie setzen.
Aber in der Nacht kam er nie. Allora wusste, dass er auf dem Holzplatz oberhalb Duddova in einem verrosteten Bus saß und mit einer blonden Frau Abendbrot aß. Auch das hatte sie beobachtet.
Als zwei Räume des Hauses fertig waren, kam die Frau ins Tal. Sie stellten einen Tisch und zwei Stühle vor die Küchentür und aßen von nun an ihr Abendbrot auf dem Hof. Wenn es dunkel wurde, zündeten sie eine Kerze an. Sie sprachen wenig. Meistens schwiegen sie. Das Wenige, das sie zueinander sagten, konnte Allora nicht verstehen, ihr Versteck im Wald war zu weit entfernt.
Wenn es draußen zu kühl wurde oder wenn die Kerze heruntergebrannt war, gingen sie ins Haus und legten sich auf eine Matratze auf den neu verlegten Fußboden aus alten verwitterten Mattoni. Allora schaute manchmal durchs Fenster, aber sie sah nie, dass sie sich berührten.
Er war eben der Unberührbare. Ein anderer Grund kam ihr gar nicht in den Sinn.
Die Frau war immer da. Sie ging selten weg. Sie pflanzte Blumen und fütterte Katzen. Zuerst waren es zwei, dann fünf, dann zehn. Allora hatte keine Möglichkeit mehr, im
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