Der Kindersammler
niemandem darüber. Aber sie ging auch nie wieder nach Valle Coronata. Zehn Jahre lang nicht.
Der Duft und der Geschmack des Trüffels umnebelten Alloras Sinne. Minutenlang dachte sie gar nichts und war vollkommen glücklich dabei. Aber dann fiel ihr der Mann wieder ein, der das Haus der Nonna aufbaute, und erneut stieg die Wut in ihr hoch wie brennende Magensäure, die einen bitteren Geschmack hinterlässt. Sie versuchte den letzten Bissen des herrlichen Pilzes ausgiebig zu schmatzen und so lange wie möglich nicht hinunterzuschlucken, aber der Gedanke an ihn kam wie ein lästiger Schluckauf immer wieder hoch.
Er war mit der Forke auf sie losgegangen und hatte versucht sie aufzuspießen. Genau so sah der Satan mit dem Dreizack aus, den sie auf einem Heiligenbildchen in einem der Gebetbücher in San Vincenti gesehen hatte. Darunter stand »Satan, Welt und ihre Rotten können nichts mehr tun, als meiner spotten. Lass sie spotten, lass sie lachen, Gott wird sie zuschanden machen.« Don Matteo hatte ihr den Satz ein paarmal vorgelesen, als sie ihn danach fragte, und sie hatte ihn sich gemerkt.
Und wieder drehte sich die Betonmischmaschine vor dem Haus der Nonna. Genau wie damals in Valle Coronata.
Sie überlegte einen Moment und knirschte mit den Zähnen. Dann sagte sie »allora«, und es klang wie ein Versprechen.
63
Wenige Tage nachdem dies geschehen war, hatte Enrico Casa Meria so weit fertig, dass er zumindest provisorisch mit Carla einziehen konnte. Das Dach war dicht, und in zwei Räumen hatte er die Wände verputzt und Fußböden gelegt. Ein Tisch, zwei Stühle und eine Kommode, auf der eine Propangasflasche zum Kochen und eine Schüssel als Spüle standen, dienten als Küche, im zweiten Raum lag eine Matratze zum Schlafen — das war alles. Carla stellte Blumen aufs Fensterbrett, hängte ein Bild von einer verwitterten toscanischen Holztür an die Wand und einige ihrer Halsketten vors Fenster, um der Küche wenigstens den Hauch einer persönlichen Note zu geben. Geschirr und Vorräte stapelte sie in diversen Kisten an der Wand, auf den Tisch stellte sie Kerzen.
Enrico hatte einen Tank mit 2 000 Litern Wasser kommen lassen. Ein langer Schlauch lief vom Wassertank bergab hinter eine Natursteinmauer und diente als Waschgelegenheit und Dusche zugleich. Carla hatte auf einigen Steinvorsprüngen Seife, Shampoo und Zahnbürsten in Zahnputzgläsern abgestellt, einen Spiegel angebracht und Handtücher in einen Baum gehängt. So zeigte sie ihren guten Willen, mit dem provisorischen Bad, dem spartani schen Leben und der neuen Situation zurechtzukommen.
Enrico meinte, der jetzige Zustand würde ihm zum Leben vollkommen ausreichen. Am liebsten wäre es ihm, sie würden die Möbel, die sie noch in Valle Coronata gelassen hatten, nie mehr abholen. Besitz fand er belastend. Vielleicht hatte er Valle Coronata auch verkauft, um wenigstens einige Monate diesen wundervollen Zustand, nur das absolut Allernötigste zu besitzen, genießen zu können.
Carla schwieg dazu und Enrico wusste, dass sie völlig anders dachte. Sie liebte ihren kleinen Schreibtisch, an dem sie Briefe schrieb, malte, Italienisch lernte oder Handarbeiten machte, sie liebte das Regal mit den wenigen Büchern, die sie besaßen, und sie brauchte ihren rustikalen Schrank, in dem sie ihre Kleidung, Bettwäsche und Handtücher in Ordnung halten konnte. Sie litt unter jeder Kiste, mit der sie sich zufrieden geben musste.
Enrico strich ihr sanft übers Haar, so sanft, dass er sie kaum dabei berührte, und sagte: »Keine Sorge, ich mache das Haus fertig. Es wird Küche und Bad, Schlaf- und Wohnzimmer haben. Wir werden auch alles, was dir wichtig ist, aus Valle Coronata holen. Und wenn du das nächste Mal in Deutschland bist, baue ich dir sogar wieder einen Pool.«
Carla lächelte. Das alles tat er nur für sie. Ihre Schwester würde nie verstehen, dass so etwas Liebe war.
64
Nachdem Carla und Enrico in ihre zwei provisorischen Zimmer des Casa Maria gezogen waren, hatte Anne in Valle Coronata eine Woche lang weder einen Menschen gesehen oder gehört, noch ein Wort mit irgendjemandem gewechselt.
Es war morgens um halb zehn, als sie den Motor eines Wagens hörte. Sie hatte gerade geduscht, ihre Haare waren noch nass, und sie trug eine uralte Jeans und eine leichte, geblümte Bluse. Anne hielt den Atem an, stand bewegungslos und hoffte inständig, sie habe sich getäuscht.
Aber als das Wagengeräusch immer näher kam, schnürte sich ihr die Kehle zu vor Angst.
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