Der Kindersammler
wild. Das Blut rauschte in seinen Ohren, und er war so aufgeregt, als wäre es das allererste Mal.
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Anfangs hatte Enrico nur gespürt, dass er auf der Baustelle nicht allein war. Er hatte es rascheln hören, obwohl er den Zement in die Mauerritzen klatschte und die Kelle laut und unangenehm kratzte, wenn er über die groben Steine schabte. Zuerst dachte er an eine Schlange, aber Schlangen Flüchteten sofort, wenn ihre Ruhe durch den Betrieb und den Krach einer Baustelle gestört wurde. Ihm fiel kein Tier ein, das nicht spontan die Flucht ergreifen würde, und das beunruhigte ihn.
Er wurde vorsichtiger, wachsamer und sah sich häufiger um. Dennoch hatte er ständig das Gefühl, beobachtet zu werden. Selbst wenn er an der dröhnenden Betonmischmaschine stand und den Sand in die Trommel schaufelte, fühlte er einen Blick in seinem Nacken.
Kein Mensch war unterwegs. Im Moment war weder Jagdzeit, noch wuchsen Pilze, und nur zum Spaß gingen Italiener nicht spazieren. Das war günstig. Er musste sich mit dem Bau beeilen. Wenn man keine Baugenehmigung besaß, war es besser, die Behörden vor vollendete Tatsachen zu stellen und auf ein
Condono zu hoffen. In diesem Fall musste man zwar Strafe bezahlen, aber der Schwarzbau wurde anschließend akzeptiert und musste nicht abgerissen werden.
Bisher hatte er noch nie Baugenehmigungen eingeholt und immer Glück gehabt. Er hasste es, sich vom verlängerten Arm des italienischen Gesetzes in Gestalt eines kleinen, dickbauchigen Geometers vorschreiben zu lassen, wie er sein Haus zu bauen hatte. Und er verachtete zutiefst all die Kleingeister, deren größtes Bestreben es war, gesetzestreu zu leben, sich an die Vorschriften zu halten und dutzende von Genehmigungen einzuholen, um dann letztendlich ein Haus zu bauen, das sie so gar nicht wollten, das aber anders nicht genehmigt worden wäre.
Er war ein Künstler, und Kunst hatte viel mit Spontaneität zu tun. Er wollte morgens beim Frühstück entscheiden, ob er das Fenster höher oder tiefer, schmaler oder breiter bauen oder vielleicht doch lieber eine Tür daraus machen wollte. Jede seiner Entscheidungen hatte etwas mit Ästhetik zu tun, und das ließ er sich von diesem Geometer, der seine Ambitionen nie verstehen würde, nicht kaputtmachen.
Carla hatte er inzwischen zweimal hierher gebracht, damit sie Casa Meria kennen lernen konnte. Auf den ersten Blick war sie wenig begeistert gewesen. Sie wollte die Terrasse an der Südseite, er an der Nordseite. Es war ihr egal, dass man vom Weg aus die Terrasse sehen konnte, die Sonne war ihr das Wichtigste. »Es wird ja wohl kein Problem sein, einen Sonnenschirm aufzustellen,« meinte sie. »Aber so können wir auch im Frühling und Herbst noch draußen sitzen, wenn es im Schatten längst zu kühl ist.«
Enrico fand die kühle Nordseite wesentlich geeigneter, weil sie vom Weg aus nicht einzusehen war, und der Blick auf die tiefe Schlucht und den dunklen Wald beruhigte ihn. Die ständige Suche nach Sonne und Wärme hielt er für einen frauenspezifischen Tick, er selbst saß lieber im Schatten, und wenn es unbedingt sein musste, dann eben mit einem dicken Pullover.
Carla konnte letztendlich reden und argumentieren, wie sie wollte: Im Endeffekt baute er das Haus und die Terrasse und zwar genau so, wie er es wollte. Da hatte sie nicht mehr Einfluss als der Geometer oder die italienische Gesetzgebung.
Nur einmal, als er vor zehn Jahren Valle Coronata restaurierte, war es richtig schwierig geworden. Er hatte gerade den Naturpool mit Zement ausgegossen, als der Maresciallo di Forestale auftauchte und ein Heidentheater veranstaltete, weil Enrico für diese Baumaßnahme keine Erlaubnis hatte.
Enrico erinnerte sich noch, dass er innerlich noch nie dermaßen in Panik geraten war wie in diesem Moment. Er war überrascht, irritiert und vollkommen verunsichert. Sein Verstand pumpte nur einen einzigen Gedanken durch seine pochenden Schläfen: »Zeit gewinnen!« Augenblicklich legte er den
Spaten aus der Hand und setzte sein charmantestes Lächeln auf. Dann lud er den Maresciallo zu einem Glas Vin Santo ein und schenkte ihm zwei Flaschen Grappa di Brunello, die er selbst nicht trank, aber für Bestechungsversuche immer im Haus hatte.
Er erklärte, dass er dem natürlichen Teichbett nur eine gewisse Stabilität hatte geben wollen, da nach jedem Regen die Mauern herausbrachen und das Tal überschwemmten. Das Wasser liefe darüber hinaus in die Mühle und hätte schon ein paarmal wichtige Papiere
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