Der Kindersammler
sich ihr Atem veränderte und sie leise anfing zu schnarchen. Daraufhin hatte er das Buch wie einen Schatz behutsam unter den Arm genommen und war ohne ein
Wort zu Bett gegangen. Mehrere Tage hatte er nicht mit Carla gesprochen. Als sie es nicht mehr aushielt, hatte sie ihm versprochen, das Buch bei nächster Gelegenheit selbst zu lesen. Und jetzt war es an der Zeit, ihr Versprechen einzulösen. Sie verfluchte innerlich den Abend, als sie eingeschlafen war. Wäre das nicht passiert, hätte sie sich diese unerträglichen siebenhundert dreißig Seiten ersparen können.
Wie benommen ging sie ins Haus. Die Hitze lastete auf ihr wie ein schwerer Wintermantel in einem überheizten Raum. Sie blinzelte, als sie aus dem grellen Sonnenlicht in die dunkle, kühle Küche trat, und musste einen Augenblick warten, bis sich ihre Äugen an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten.
Ein paar Sekunden später sah sie es, denn sie stand unmittelbar davor. Felix Bild lag auf dem groben Holztisch und leuchtete regelrecht auf dem dunklen Braun. Das Foto, das vor kurzem noch in Valle Coronata gehangen hatte. Sie hatte es sich oft angesehen und jedes Mal nachempfinden können, wie sich Anne fühlte und was sie empfunden haben musste, als Felix nicht mehr nach Hause gekommen war.
Carla starrte fassungslos auf das Bild und setzte sich. Sie schob sich die schweißnassen Haare aus der Stirn und sah, dass ihre Hand kaum merklich zitterte. Was war hier los? Wie kam das Bild auf diesen Tisch? Kurz bevor sie sich zum Lesen in die Hängematte gelegt hatte, war sie noch durch die Küche gegangen und hatte ein Glas Wasser getrunken. Das Foto hatte nicht auf dem Tisch gelegen, das wusste sie ganz genau. Aber wer hatte es hier hingelegt? Und warum?
Anne? Nein, das war unmöglich. Sie hätte sie kommen sehen und auch gehört. Von der Hängematte aus hatte man den Weg zum Haus gut im Blick. Außerdem hätte sich Anne gemeldet. Sie hätte gerufen, wäre sicher auch noch einen Moment geblieben, um einen Schluck zu trinken. Und warum sollte sie das Foto hierher bringen? Sicher nicht, um es zu zeigen, denn Anne wusste, dass sowohl Enrico als auch Carla das Bild kannten. Es gab also gar keinen Grund. Anne war ja glücklich darüber, dass sie es hatte, dass es an diesem wunderbaren Platz in Valle Coronata hing, und vor allem, dass sie es ertragen konnte, ihren Sohn immer wieder anzusehen. Nein. Anne konnte es nicht gewesen sein. Aber wer dann?
Enrico? Nein. Auch da gab es keinen Grund. Normalerweise hupte Enrico immer einmal kurz, wenn er den Weg heraufgefahren kam, damit sie Bescheid wusste, und außerdem, warum sollte er das Bild aus Valle Coronata holen und hier heimlich auf den Tisch legen? Nein, das ergab alles keinen Sinn.
Doch außer Anne, Enrico und ihr selbst kannte niemand sowohl Valle Coronata als auch Casa Meria. Kai vielleicht noch. Dieser Makler. Aber der hatte ja nun mit ihnen so gut wie gar nichts zu tun. Auch für Kai fiel ihr kein Grund ein, den heimlichen Bilderboten zu spielen.
Der Rahmen fehlte. Carla erinnerte sich, dass das Foto an der Wand hinter einem Glasträger gehangen hatte. Vielleicht war der Rahmen kaputt. Das war ja möglich. Aber trotzdem kam ein Foto nicht von allein kilometerweit von einem Tal ins andere geflattert. Carla spürte, wie sie augenblicklich stechende Kopfschmerzen bekam. Sie stand auf und trank Wasser, das in einer Karaffe immer bereitstand. Es war lauwarm, aber das störte sie nicht. Sie trank ausgiebig, um ihre Kopfschmerzen loszuwerden und den Kopf wieder freizubekommen.
Irgendetwas ging hier vor. Irgendetwas war passiert. Irgendetwas, das mit Anne und ihrem Sohn zusammenhing. Seit diese Frau hier war, hatte sich etwas verändert, das spürte Carla, aber sie wusste nicht, was.
Enrico war nicht da. Er war nie da, wenn man ihn brauchte. Sie wollte ihn mit diesem Mysterium konfrontieren, wollte hören, was er für eine Erklärung parat hatte. Er, der immer alles wusste, alles einordnen konnte und nie in Verlegenheit kam. Er, der an nichts
Mystisches glaubte, an keinen Zufall, nichts übersinnliches und nichts Parapsychologisches. An keine Zauberei, keine Hexerei und keine Telepathie. Er glaubte nur an sich und an das, was er sah und hörte und was er befühlen und begreifen konnte. Sie freute sich jetzt fast über das merkwürdige Auftauchen des Bildes, denn sie wollte ihn ein einziges Mal sprachlos erleben, fassungslos, ohne Antwort und ohne einen einzigen vernünftigen Gedanken, der dieses
Weitere Kostenlose Bücher