Der Kindersammler
Hause Nachhilfelehrerin für Schularbeiten aller Art. Ich war die, die die Küche wischte, den Gehweg fegte und die Äpfel erntete, die sich für die gesamte Familie die Weihnachtsgeschenke überlegen musste und die, die sich nie eine Affäre leistete. Weil ich viel zu viel Schiss hatte, dass es rauskommen könnte. Meine Romantik hieß: im Sommer eine Reise nach Gran Canaria, im Winter eine Woche Skifahren in Saas Fe. Und spazieren gehen am Strand. Aber eigentlich nur, wenn Probleme zu besprechen waren.«
Jetzt lachte Kai. »Wunderbar. Aber eins ist mir nicht klar. Woher hattest du das Geld für Valle Coronata? Und das Geld, hier Wochen oder Monate oder Jahre, ich weiß es ja nicht, einfach so bleiben zu können? Ohne irgendwas zu tun?«
Die Kellnerin brachte Papardelle mit Cinghale, Bandnudeln mit Wildschweinsoße, für beide.
»Meine Patentante hat mir was vermacht. Sie ist vor einem Jahr an Knochenkrebs gestorben. Sie hatte außer mir niemanden, und wir haben uns richtig gut verstanden. Als sie krank war, hab ich mich monatelang bis zu ihrem Tod um sie gekümmert. Aber dass sie so viel auf der hohen Kante hatte, hab ich nicht geahnt.«
»Und die Praxis? Wie läuft der Laden ohne dich?«
Anne zuckte die Achseln. »Weiß ich nicht. Irgendwie. Keine Ahnung. Wenn ich noch länger hier bleibe, wird Harald vielleicht jemanden einstellen. Aber ich hab mir einfach mal eine Auszeit von der Ehe genommen. Und daran ist Harald nicht ganz unschuldig.«
»Eine andere Frau?«
»Auch. Aber der Hauptgrund ist Felix. Seit seinem Verschwinden ging es mit unserer Ehe bergab. Wir haben einfach unterschiedlich getrauert, und das zu tolerieren haben wir beide nicht geschafft. Ich wollte wissen, was passiert ist, Harald wollte das nach einer gewissen Zeit nicht mehr. Ganz am Anfang war sein Schmerz so groß, dass er nur noch wütend war und voller Tatendrang. Er war zwanzig Stunden am Tag unterwegs, suchte, setzte alles in Bewegung, was in Bewegung zu setzen war, während ich wie gelähmt zu Hause saß und wartete und nichts machen konnte. Ich konnte mich einfach nicht bewegen. Das verstand er nicht. Nach ein paar Monaten hatte sich bei mir nicht viel geändert, obwohl ich im Kopf immer durchspielte, was ich noch alles versuchen könnte. Vor allein in Italien. Und bei Harald war die Luft raus. Irgendwann schloss er mit der ganzen Sache ab und lebte nach dem Motto, man sollte sich nicht über Dinge verrückt machen, die man eh nicht mehr ändern kann.«
»Überspitzt formuliert.«
»Natürlich überspitzt formuliert. Aber auf diesem Level kamen wir einfach nicht mehr zusammen. Völlig unmöglich.«
»Das verstehe ich.«
Eine Weile schwiegen beide. Dann fragte Kai: »Möchtest du noch Fleisch? Oder Fisch?«
Anne schüttelte den Kopf. »Nein danke, ich bin satt. Aber ein Kaffee wäre nicht schlecht.«
Kai winkte der Kellnerin. »Nicht hier. Den nehmen wir in der Fiaschetteria. Wenn du in Montalcino bist, musst du dieses Cafe unbedingt kennen lernen.«
68
Carla wurde es in der Hängematte schnell zu heiß. Sie klappte das Buch zu, das Enrico ihr zum Lesen gegeben hatte und das sie schrecklich langweilte. »Schuld und Sühne« von P.M. Dostojewski. Schon mit den komplizierten Namen in diesem Buch kam sie nicht zurecht, und die schwülstige Sprache fand sie einfach schwierig und entsetzlich. Sie war erst auf Seite dreiundfünfzig und hatte gerade einen dreizehn Seiten langen Brief gelesen, der aus nur einem einzigen Absatz bestand. Verstanden hatte sie kaum etwas. Es war eine Quälerei, fand Carla, aber was sollte sie machen? In wenigen Tagen würde Enrico anfangen, mit ihr darüber zu diskutieren, er würde ihr Fragen stellen und immer nur müde lächeln, wenn sie eine Frage nicht beantworten konnte. Sie hasste das, sie fand ihn bei diesen Gelegenheiten unerträglich arrogant, und sie wusste ganz genau, dass er—wenn er wollte — in der Lage war, nur Fragen zu stellen, die sie nicht beantworten konnte. Dieses schreckliche Buch hatte siebenhundertdreißig Seiten. Die schaffte sie nie.
Dafür brauche ich Jahre, dachte sie, vor allem, wenn ich jeden Tag nur drei Seiten lese, weil es so öde ist und weil ich regelmäßig dabei einschlafe. Aber sie wusste, dass Enrico das Buch unzählige Male gelesen hatte. Immer und immer wieder, als gäbe es nur dieses eine auf der Welt. Er konnte es seitenweise auswendig und hatte schon oft an langen Winterabenden daraus rezitiert. Dass Carla einmal dabei eingenickt war, merkte er erst, als
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