Der Kindersammler
leicht schrill.
»Und warum hast du mir nichts von den beiden andern vermissten Kindern erzählt?«
»Ich wollte dir keine Angst machen, Anne.« Enricos Stimme war warm und herzlich. »Du hattest doch wirklich schon genug Sorgen und Probleme. Und ich wollte dir vor allem die Hoffnung nicht nehmen, deinen Felix vielleicht doch eines Tages lebend wiederzufinden. Vielleicht war es ein Fehler, kann sein, ich weiß es nicht, aber wenn ich etwas falsch gemacht haben sollte, dann tut es mir sehr Leid. Entschuldige, Anne.«
Anne war augenblicklich nicht mehr wütend, sondern eher beschämt, und fragte leise: »Du glaubst also nicht, dass er noch lebt?«
Enrico schüttelte den Kopf. Carla drückte ihre Hand vor den Mund, weil sie kurz davor war zu weinen. Anne fragte unbeirrt weiter.
»Dann ist hier in dieser Gegend also doch ein Kindermörder unterwegs, der alle paar Jahre zuschlägt und die Leichen so gut versteckt, dass sie wahrscheinlich niemals gefunden werden?«
»Das kann gut sein. Ja«, sagte Enrico und vermied es, Anne anzusehen.
Eine Weile sagte niemand etwas.
Anne holte tief Luft. »Ich glaube, der Kindermörder ist heute in Valle Coronata eingebrochen.«
»Was?« Enrico spürte eine leichte Form von Schwindel und konzentrierte sich auf seinen Atem.
Da Anne in ihrer Tasche hektisch nach Zigaretten suchte, schaltete sich Kai ein und erklärte: »Wir haben heute eine Fahrt nach Montalcino gemacht. Als wir losfuhren, war in Valle Coronata alles okay, aber als wir wiederkamen, war die Scheibe der Küchentür eingeschlagen. Auf der Erde war Blut. Der Täter muss sich an der kaputten Scheibe geschnitten haben. Wir haben das ganze
Haus auf den Kopf gestellt. Es ist alles da. Es fehlt nichts, es ist nichts durchwühlt worden.«
»Sogar mein Geld in der Küchenschublade war noch vollzählig«, warf Anne ein.
»Es fehlt nur ein Foto! Das Foto von Felix, das über dem Küchentisch hing. Nur das ist gestohlen worden. Nur dieses eine Bild.« Kai sah Enrico und Carla auffordernd an. »Was soll das? Wir verstehen es einfach nicht.«
Carla sprang auf, murmelte eine Entschuldigung und rannte ins Haus.
»Was hat sie denn?«
»Keine Ahnung.« Enrico wollte sich jetzt nicht über Carla Gedanken machen. Er war irritiert, schwer irritiert. Und er konnte es überhaupt nicht ausstehen, wenn er in eine Situation gebracht wurde, die er nicht mehr überschauen konnte und nicht mehr verstand. »Das macht doch keinen Sinnt«, sagte er kopfschüttelnd. »Wer bricht denn in Volle Coronata ein, nur um dieses Foto zu stehlen?«
»Das weiß ich eben auch nicht!« Anne rauchte mit tiefen Zügen. »Aber ich könnte mir vorstellen, dass es der Mörder war. Der Mörder von Felix. Vielleicht ist er zufällig in Valle Coronata vorbeigekommen, war ein bisschen neugierig, hat in die Küche geguckt, und da hat er ein Foto von dem Jungen gesehen, den er vor zehn Jahren umgebracht hat. Natürlich wollte er es haben. Unbedingt. Als Erinnerung. Oder als Trophäe. Wie auch immer. In seiner Er innerung war der Mord schon fast verblasst, aber plötzlich war alles wieder da. Plötzlich sah er alles wieder so vor sich, wie es damals gewesen war, er durchlebte den Mord noch einmal und ergötzte sich daran. Und er wird sich immer wieder daran ergötzen, denn jetzt hat er ja das Foto. Und nur so erklärt es sich auch, dass er überhaupt kein Interesse daran hatte, mein Geld oder meinen Laptop zu klauen.«
Carla kam wieder. Sie hatte sich kaltes Wasser ins Gesicht geklatscht und war knallrot. »Was ist, was habt ihr gesagt?«
Kai wiederholte mit knappen Worten, was Anne gemeint hatte. Carla nickte und setzte sich.
»Geht es dir nicht gut?«, fragte Anne sie.
»Doch, doch.« Carla versuchte zu lächeln.
Enrico hatte das Gefühl, dass sein Herz kurz aussetzte und dann unregelmäßig weiterholperte. Was war da los? Gab es irgendjemanden, der zu viel wusste?
»Habt ihr die Polizei gerufen?«, wollte Carla wissen.
»Wegen eines Fotos, das einen Wert von zwanzig Euro hat? Die halten uns für verrückt!« Kai schüttelte den Kopf.
»Irgendetwas geht in Valle Coronata vor, das mit Felix zu tun hat. Aber ich versteh's nicht.« Anne zündete sich die nächste Zigarette an.
»Wenn es der Mörder war«, überlegte Enrico, »dann wäre es ein derartig unglaublicher Zufall, das kann ich mir nicht vorstellen. Ich glaube sowieso nicht an Zufälle. Ich glaube auch nicht an das Schicksal, das unsere Wege auf geheimnisvolle Weise lenkt, und wir können nichts
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