Der Kindersammler
Fleisch, der immer wieder schmerzte, wenn man ihn berührte, doch heute war ein Tag, an dem sie den Schmerz vergessen konnte.
»Hast du Lust, dir ein Benediktinerkloster, die Abbazia di Monte Oliveto Maggiore anzugucken? Wir kommen direkt dran vorbei.« »Ja, klar, warum nicht.«
Kai fuhr die engen Haarnadelkurven zügig und sicher. Der Wagen schien mit der Straße verwachsen zu sein. Anne war normalerweise eine schlechte Beifahrerin. Sie fuhr lieber selber, denn sie spürte jede Unsicherheit des Fahrers, konnte es überhaupt nicht leiden, wenn der Wagen zu untertourig oder zu hochtourig gefahren wurde, sie hatte immer das Gefühl, die Gefahr und die Fehler anderer eher zu ahnen als der, der am Steuer saß, und konnte sich selten entspannen. Bei Kai war das anders, sie war völlig relaxed und hatte Lust, seinen Nacken zu streicheln, aber dann ließ sie es doch.
Als sie die Abtei erreichten, standen auf dem Parkplatz schon fünf große Reisebusse.
»Bitte nicht«, stöhnte Anne. »Bitte jetzt keine Touristenmassen, die sich durch ein Kloster schieben. Lass uns die Abtei ein andermal besichtigen. Vielleicht im Winter, wenn keine Touristen hier sind.«
»Okay.« Kai sah aus, als hätte Anne ihm vollkommen aus der Seele gesprochen.
Die kurvige Strecke zog sich noch bis kurz vor Buonconvento hin, ein mittelalterliches Städtchen, das von einer beeindruckend hohen und völlig intakten Stadtmauer umgeben war. Als sie dann von der Bundesstraße Richtung Rom nach wenigen hundert Metern nach Montalcino abbogen, schlängelte sich die Straße kilometerlang langsam höher und höher, Montalcino auf der Höhe des Berges immer im Blick.
Kai parkte direkt neben dem Castello am höchsten Punkt von Montalcino und schlenderte dann mit Anne durch die engen Gassen, die ab und zu einen fantastischen Blick ins Tal erlaubten. Er hatte den Arm um Annes Schultern gelegt. Wir sehen aus wie ein Paar, das seit Jahren verheiratet ist, dachte Anne amüsiert, dabei bin ich mit einem ganz anderen Mann verheiratet, der jetzt wahrscheinlich gerade auf die Uhr sieht, einen Blick ins Wartezimmer wirft und sagt: »Noch drei Patienten, dann ist Mittagspause. Hoffentlich erzählt Frau Böhme nicht wieder so viel ...«
Anne war von dem Städtchen begeistert. Nicht so klein wie Ambra, nicht so groß wie Siena, beschaulich, aber nicht ausgestorben.
»Wenn ich in einer Stadt leben müsste, dann vielleicht in dieser«, dachte sie laut. »Siena mag ich auch sehr, aber ich brauche zehn Jahre, bis ich mich da nicht mehr verlaufe.«
In einer kleinen Osteria fanden sie einen winzigen Tisch auf dem Balkon, unter dem es gut fünfzig Meter steil nach unten ging und dessen Geländer bedenklich wackelte. Doch der Blick über das Tal bis hin nach San Quirico war atemberaubend.
»Auf dem Rückweg fahren wir aber auf jeden Fall noch kurz in Sant Antimo vorbei«, meinte Kai, während er genüsslich in ein mit Leberpaste bestrichenes Crostino biss. »Das ist eine der schönsten Kirchen, die es gibt. Die Legende sagt, Engel hätten sie im Laufe einer einzigen Nacht erbaut. Die Säulen sollen sie auf ihren Häuptern und die Steine in ihren Händen getragen haben.«
»Du siehst zwar nicht so aus, aber du bist ein hoffnungsloser Romantiker, stimmt's?«, fragte Anne.
»Ich bin in Italien einer geworden. Früher war ich ganz anders. Früher war ich ein eitler Yuppie, der zweimal im Monat zum Friseur ging, ein Vermögen für ein Aftershave ausgab, sich ab und zu in seiner chromglänzenden Küche ein Bistro-Baguette in der Mikrowelle warm machte, beim Essen die Börsen nachrichten auf ntv verfolgte, kurz mit der Bank telefonierte, um danach in einer neonbeleuchteten Künstlerbar so viele Gin-Tonic zu trinken, bis das Stehen schwer fiel. Meine Bekanntschaften und Affären dauerten im Schnitt von zweiundzwanzig bis drei Uhr früh, meine Wäsche erledigten einmal in der Woche Reinigung und Wäscherei, mein Badezimmer war schwarz gefliest, und meine einzigen Haustiere waren die Grippeviren, die ich einmal im Jahr vom Büro mit nach Hause brachte.« Er grinste schief »Ich glaube, romantisch ist was anderes.«
Anne lachte. »Unglaublich. Und ich war die treu sorgende Ehefrau und Mutter, die jeden Tag drei Mahlzeiten aus dem Hut zauberte, Hund, Katze und Meerschweinchen fütterte, dem Mann den passenden Schlips rauslegte und die Manschettenknöpfe zufummelte, wenn wir ins Theater gingen, die in der Praxis Krankenschwester, MTA, Sprechstundenhilfe und Buchhalterin war und zu
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