Der Kindersammler
Weg von Casa Meria nach San Vincenti war. Um nach San Vincenti zu laufen, benötigte man ungefähr genauso viel Zeit, wie man brauchte, um der Nonna ihre Minestrone zu kochen. Und die Minestrone kochte lange, denn die Nonna hatte keine Zähne mehr gehabt und konnte die Karotten und Kartoffeln nur mit der Zunge am Gaumen zerdrücken. Allora stellte sich vor, dass die blonde Frau mit dem Pflastern des Weges sicher erst fertig sein würde, wenn sie so alt wäre wie die Nonna gewesen war, als sie starb. Und deswegen tat ihr die blonde Frau Leid.
Aber allmählich wurde Allora auch ungeduldig, denn solange die Frau diese dumme Arbeit machte, konnte sie selbst nicht ins Haus. Und sie wollte doch das Bild dem Mann auf den Tisch legen. Sie hatte nie ganz verstanden, was sich damals in Valle Coronata abgespielt hatte und warum das Kind tot gewesen war, aber sie wusste, dass es sein Kind war. Er hatte es getragen, er hatte es in den Teich gelegt, es gehörte ihm. Darum musste er auch das Bild haben. Es gehörte nicht der Frau in Valle Coronata, sie war schließlich fremd in dem Haus, es gehörte dem Mann mit der forcona. Obwohl sie wütend auf ihn war und ihn fürchtete. Aber sie stellte sich vor, irgendjemand hätte ein Bild von der Nonna, dann müsste es auch ihr gehören. Sie hatte die Nonna gepflegt und hatte sie in die Kirche getragen, als sie tot war. Und sie hatte die Nonna geliebt. Bestimmt hatte der Mann das Kind auch geliebt.
Als sie daran dachte, wie schön es wäre, ein Bild der Nonna immer mit sich herumtragen zu können, liefen ihr die Tränen übers Gesicht. Dann wäre sie nicht ganz tot. Mittlerweile fiel es ihr richtig schwer, das Bild der Nonna in ihrem Herzen immer wieder lebendig zu machen, sich an sie zu erinnern und sie leibhaftig vor sich zu sehen. Sie wusste zum Beispiel gar nicht mehr so genau, was die Norma für eine Nase gehabt hatte. Sie glaubte, eine dicke, leicht verbogene, mit dicken Poren, die aussahen wie kleine Löcher ..., aber sie war sich nicht mehr so sicher.
Nein, das Bild musste der Mann haben. Auch wenn er der Satan war. Aber sie wagte nicht, es ihm direkt zu geben, sie hatte Angst, er würde sie wirklich mit der Teufelskralle durchbohren. Darum musste sie es schaffen, das Bild heimlich auf den Tisch zu legen und zu verschwinden.
Die Frau legte die Steine immer noch. Allora gähnte. Dabei flog ihr eine Fliege in den Mund, und sie musste spucken, aber sie hatte die Fliege bereits verschluckt und fing an zu würgen. Offensichtlich hatte die Frau etwas gehört, denn sie hielt mit ihrer Arbeit inne und sah sich um. Allora hörte auf zu würgen und zu atmen. Aber sie hatte einen derartig starken Hustenreiz, dass sie fast erstickte, als sie versuchte, ihn zu unterdrücken. Ihr sonst so blasses Gesicht war knallrot und hatte inzwischen fast die Farbe ihres auf der Stirn getrockneten Blutes.
In diesem Moment streckte sich die Frau, beugte ihren schmerzenden Rücken langsam auf und ab und ging dann ins Haus.
Allora hustete herzhaft und konnte endlich die tote Fliege ins Gebüsch spucken. Dann tastete sie nach dem Foto, das sie unter ihr Hemd geschoben hatte. Es war warm und ein wenig feucht. Sie holte es heraus und sah es in Ruhe an. Mit dem Finger strich sie leicht die Arme des Jungen entlang und lächelte.
In diesem Moment kam die Frau wieder. Sie hatte ein Buch in der Hand und ging ums Haus herum. Wenig später hörte Allora die Hängematte in ihrer rostigen Aufhängung quietschen.
Endlich war der Moment gekommen. Sie stand auf und schlich lautlos ins Haus.
67
Die Fenster des Jeeps waren alle geöffnet, und Anne genoss den warmen Fahrtwind, als sie durch die Crete fuhren. Die Hügel und Felder waren jetzt, in der heißesten Zeit des Sommers, braun, die Wiesen vertrocknet, und zusammen mit dem Grau der bizarren Kalkfelsen bot diese einmalige Landschaft einen fast trübseligen Anblick.
»Hast du die Crete schon mal im Frühling gesehen?«, fragte Kai. »Um diese Zeit ist sie am schönsten. Auf allen Hügeln hast du dann das frische leuchtend grüne Sommergetreide, das sich im Wind bewegt wie die Wellen eines Ozeans. Es ist fantastisch. In der Crete verkaufe ich die Häuser fast nur im Frühling.«
»Ich bin gespannt drauf.« Anne schloss die Augen. Sie versuchte diesen wunderbaren Moment festzuhalten. Alle Probleme schienen endlos weit weg zu sein, und sie genoss einfach nur die Fahrt durch die Toscana, ohne an Felix denken zu müssen. Der Gedanke an ihn war wie ein Stachel im
Weitere Kostenlose Bücher