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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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Wohnung verließ.
    Die Haustür war nur angelehnt. Im Hausflur roch es muffig. Das war ihr bei ihrem ersten Besuch gar nicht aufgefallen, aber da hatte sie nur an sein Bett gedacht und auf nichts anderes geachtet.
    Ihr Herz klopfte wie wild, und sie spürte, dass sie flammend rot war, als sie auf den Klingelknopf drückte. Ein paar Sekunden vergingen, dann hörte sie in der Wohnung eine Tür schlagen und danach etwas rumoren, als würde jemand eine Schublade mit diversen Schlüsseln und allerlei Kleinkram durchsuchen. Anne wartete gespannt. Nach zwanzig Sekunden klingelte sie erneut, und fast gleichzeitig wurde geöffnet.
    Anne hörte vor Schreck auf zu atmen. Vor ihr stand eine Frau, deren Alter unmöglich zu schätzen war. Ihre schlohweißen Haare standen dicht und wild vom Kopf ab und ließen ihr schmales Gesicht noch schmaler und beinah durchsichtig erscheinen. Sie war barfuß und trug den Bademantel, den auch Anne an ihrem ersten Abend bei Kai angehabt hatte.
    Eine Löwin, dachte Anne, eine weiße Löwin, der ich auf keinen Fall das Feld überlassen werde.
    »Buonasera«, sagte Anne übertrieben höflich, »Kai c'e?« Sie wartete die Antwort nicht ab, sondern schob sich an der Löwin vorbei in den Flur.
    »Allora«, sagte Allora und schloss hinter Anne die Tür.
    Anne rief ein paarmal »Kai?«, öffnete Bad, Schlafzimmer und Wohnzimmer, aber da war niemand. Von Kai keine Spur. Dann ging sie in die Küche.
    Auf dem Küchentisch stand eine große Schüssel mit Müsli. Offensichtlich war Allora gerade dabei zu frühstücken. Marmelade, Milch, eine Karaffe mit Wasser, Gläser, ein Haufen benutztes Besteck, eine Tüte Trockenbohnen und Schnipsgummis lagen herum.
    »Was wird hier gespielt, verdammt noch mal?«, fragte Anne scharf. »Wo ist Kai, und wer bist du?«
    »Allora«, erwiderte Allora und grinste. Anne sah, dass sie eine Wunde an der Stirn hatte. Jetzt stand sie lässig gegen die Spüle gelehnt und kratzte sich genüsslich den Schorf ab, bis ihr das Blut langsam über das Gesicht lief.
    Anne wurde übel, so ekelte sie sich bei Alloras Anblick.
    Um die Lebensmittel neben der Spüle abzustellen, machte Anne einen Schritt in Alloras Richtung, was Allora als Angriff interpretierte. Sie machte einen Satz vor und biss so schnell, dass Anne gar nicht merkte, wie ihr geschah, in Annes Unterarm.
    Anne stöhnte auf, und Allora begann zu kreischen, sprang auf den Tisch, riss dabei Müslischale und die Milch um und trat mit ihren nackten Füßen in die Marmelade. Ohne mit dem Kreischen aufzuhören, blitzte sie Anne wütend an und drohte, sich vom Tisch auf sie zu stürzen.
    Anne hob abwehrend die Hände. »Hör auf«, schrie sie. »Hör auf mit diesem Irrsinn, ich will doch nur mit dir reden!«
    Aber Allora hörte nicht auf, sondern tobte unvermindert weiter.
    Anne verließ fluchtartig die Wohnung. Noch auf der Straße hörte sie die Löwin brüllen, und es klang, als wären es die Schmerzensschreie eines verletzten Tieres.
    75
    Anne fuhr extrem langsam, weil sie sich nicht mehr auf den Verkehr konzentrieren konnte. Sie ertappte sich dabei, dass sie überlegte, ob die Kupplung rechts oder links, das Gas in der Mitte und die Bremse rechts war oder umgekehrt. Als vor ihr auf der Schnellstraße ein Lastwagen vor einer Baustelle abbremste, geriet sie in Panik, weil sie aufs Gas trat, als sie versuchte zu kuppeln und in ihrer Hektik die Bremse nicht fand. Als der Wagen schließlich stand, tropfte ihr der Schweiß von der Stirn in die Augen und verschleierte ihr den Blick.
    Ich bin fertig, dachte sie, fix und fertig, ich muss dringend nach Hause. Mein Leben gerät immer mehr aus den Fugen. Ich muss mich hinlegen und versuchen zu sortieren, was noch in Ordnung ist. Ich muss irgendetwas finden, woran ich mich festhalten kann.
    Von einer Sekunde auf die andere war ihre Sicherheit zusammengebrochen. In Kai hatte sie sich verliebt, sie hatte ihm vertraut, er hatte sie glücklich gemacht und aus ihrer Einsamkeit herausgeholt. Das war jetzt alles vorbei. Offensichtlich hatte sie eine harmlose Affäre viel ernster genommen als der Mann. Die Beziehung zu ihr war Kai also nie wirklich wichtig gewesen, er hatte andere Frauen gleichzeitig, er schlief mit einer wild gewordenen Löwin genauso wie mit ihr, er ließ dieses Ungeheuer in seine Wohnung, während er nicht da war, sie trug seine Sachen, schlief in dem Bett, in dem sie gelegen hatte, und diese Löwin hatte einen solchen Dachschaden, dass sie nicht einen einzigen zusammenhängenden

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