Der Kindersammler
überzeugen, aber ich habe mir meine Meinung über ihn gebildet. Er ist ein netter Kerl. Immer freundlich und charmant, keine Frage. Wenn du ihm gegenüberstehst, gerätst du sofort in seinen Bann und glaubst ihm alles, was er sagt. Du vertraust ihm und schenkst ihm dein letztes Hemd. Und kaum bist du wieder allein, merkst du, wie er dich über den Tisch gezogen hat. Ich habe einfach beschlossen, mich von ihm nicht mehr einwickeln und belügen zu lassen.«
Anne schwieg. Was Eleonore gesagt hatte, brachte sie ganz durcheinander. Es stimmte, sie vertraute Enrico völlig und hätte wirklich ihr letztes Hemd für ihn gegeben. Aber hatte sie sich so in ihm getäuscht? Oder hatte Eleonore eine bösartige Ader, die sie geschickt hinter ihrer kumpelhaft freundlichen Art verbergen konnte?
»Ich glaube, ich könnte jetzt doch ein Glas Wein vertragen«, meinte Anne. Eleonore grinste, stand auf und verschwand in der Küche.
Als sie mit dem Wein zurückkam, sagte sie: »Was für ein wundervoller Tag, herrliches Wetter, wir sind gesund und munter, haben keine Sorgen, lass uns das Leben genießen, und dabei kann der Wein nicht schaden.«
Und dann erzählte Anne ihr von dem Einbruch in Valle Coronata und dem mysteriösen Verschwinden des Fotos.
73
Anne spürte einen leichten Schwindel, als sie gegen zwei von La Pecora zurück nach Voile Coronata fuhr. Der Wein hatte sie schwerfällig und schläfrig gemacht. Sie registrierte kurz, dass im Haus alles unverändert war, legte sich ins Bett und schlief sofort ein.
Aus dem Tiefschlaf schreckte sie von einem Motorengeräusch auf, so nah und so laut, wie sie es noch nie gehört hatte. Sie fuhr aus dem Bett. In ihrem Kopf drehte sich alles, als sie ans Fenster stürzte. Direkt vor ihrer Küchentür, die sie nicht abgeschlossen hatte, stand ein Jeep. Er war so nah, dass man vom Trittbrett der Beifahrertür direkt in die Küche hätte treten können, ohne den Boden zu berühren.
Auf dem Hof ging ein Mann in Armeestiefeln, Militärhose und Bomberjacke breitbeinig auf und ab und grinste anmaßend, als sie das Fenster aufriss und in ihrem gebrochenen Italienisch, das durch ihre Aufregung nicht besser wurde, fragte, was das solle und was er auf ihrem Grundstück zu suchen habe. »Che cosa vuole?«
Es war ja nicht nur das Grundstück. Der kleine Hof zwischen Küche und Mühle war ihr sommerliches Wohnzimmer, die dreiste Vorfahrt des Jeeps eigentlich ein Hausfriedensbruch.
Er spürte ihre Unsicherheit und grinste noch unverschämter. Er stellte sich noch breitbeiniger hin und stemmte die Arme unangenehm siegessicher in die Hüften.
Anne sah nur seine hellblauen, stechenden Augen. Was für böse Augen, dachte sie, o mein Gott, was für Augen, was soll ich nur tun? Enrico hatte ganz Recht. In der Nacht war sie sicherer. Da konnte sie in der Dunkelheit verschwinden, jetzt hatte sie dagegen keine Chance, er würde ihr folgen und wäre sicher schneller und stärker als sie.
»Vattene!«, kreischte sie. »Hau ab, das ist mein Haus! A mia casa. Vattene!« Dazu machte sie eine wütende Geste, indem sie den Zeigefinger weit von sich streckte und in Richtung Wald zeigte. Aber der Mann schüttelte nur den Kopf, fasste in seine Jackentasche, zog ein Päckchen Zigaretten heraus, schnappte sich eine Zigarette mit den Lippen und zündete sie an, als habe er alle Zeit der Welt.
Anne ging vom Fenster weg, rannte die Treppe hinunter und zwängte sich am Jeep vorbei ins Freie. Jetzt stand sie vor dem grinsenden Eindringling, dem die Situation offensichtlich äußerst gut gefiel.
Und dann redete er. Er sprach schnell, hart und aggressiv. Jedes Wort kam ihr vor wie eine Ohrfeige, und sie verstand kein Wort.
»Non ho capito niente«, sagte sie, und der Mann wiederholte seine Tirade, ohne dass Anne auch nur ein kleines bisschen schlauer daraus wurde.
»Ich hab immer noch nichts verstanden«, wiederholte sie. »Und jetzt hauen Sie ab, oder ich rufe die Polizei!« Dass sie die Polizei ohne Telefon und ohne Handyempfang gar nicht rufen konnte, wusste der Typ hoffentlich nicht. »Wenn Sie ein Problem haben, schreiben Sie mir einen Brief!«
Jetzt verschränkte sie wütend und abwehrend die Arme vor der Brust und wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher als ein Pfefferspray in ihrer Hand.
Der Mann holte tief Luft und fing an zu brüllen. Er schlug mit der flachen Hand auf die Motorhaube seines Armeejeeps und ging danach — unentwegt weiterbrüllend — auf Anne zu und bedrohte sie mit der Faust, mit
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