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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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unglaublich, dass du mir so was zutraust!«, schrie Anne. »Ja, sie hat auf dem Tisch rumgetobt und alles runtergerissen, schlicht und einfach nur, weil sie verrückt ist! Ich hab ihr nichts getan, aber mich hat sie gebissen, deine tolle Freundin!«
    »Ich glaub dir kein Wort! Sie flippt doch nicht ohne Grund einfach aus! Und wenn — dann muss sie schreckliche Angst vor dir gehabt haben!«
    »Sag mal, bin ich jetzt hier die Angeklagte, oder was? Wieso glaubst du ihr mehr als mir? Ich habe nicht die geringste Lust, mir von dir diesen Schwachsinn und diese albernen Vorwürfe anzuhören. Warum bist du gekommen? Um mich anzumachen? Um mich anzuschreien? Das hättest du dir sparen können. Hau ab! Aber schnell, und nimm dieses Untier mit! Ich komme sehr gut allein zurecht!«
    Anne war kurz davor, in Tränen auszubrechen.
    In diesem Moment sagte eine heisere Stimme: »Allora!«
    Allora stand in der Küchentür und schüttelte unentwegt den Kopf. Sie wedelte abwehrend mit den Armen und murmelte unentwegt »allora«, was so klang wie: »Aufhören, Schluss jetzt, hört auf, euch zu streiten!«
    Kai und Anne starrten sie an, und Allora ließ ihre Stirn immer wieder gegen die imaginäre Küchentür sausen und deutete auf ihre Wunde, bis Kai endlich verstand und sagte: »Du warst es? Du hast mit deiner Stirn das Glas der Küchentür zerschlagen?« Allora nickte heftig.
    »Aber warum? Was wolltest du denn hier im Haus?«
    Allora zeigte auf die Stelle an der Wand, wo das Bild gehangen hatte.
    »Du hast das Bild gestohlen?«
    Allora nickte wieder heftig.
    »Aber warum?«
    Allora legte die Handflächen aneinander, als wolle sie beten, und seufzte.
    »Hast du noch ein Bild von Felix?«, wandte sich Kai an Anne, und Anne nickte. »Dann hol es schnell.«
    Anne rannte die Treppe hoch ins Schlafzimmer und kam nur Sekunden später mit einem kleinen Foto wieder, das Felix am Schreibtisch zeigte, während er Schularbeiten machte und an einem Bleistift kaute.
    Kai zeigte Allora das Foto. »Kennst du den Jungen?«
    Allora nickte. Anne lehnte sich an die Wand. Ihre Knie waren butterweich, sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. »Hast du ihn schon mal gesehen?«
    Allora nickte.
    »Noch mal, Allora. Warum hast du das Foto aus dem Haus geholt?«
    Allora zog eine Grimasse, die ausdrückte, ich weiß es selbst nicht.
    »Weil du ihn kanntest und dich an ihn erinnern wolltest?« Allora nickte erneut und grinste gequält.
    »Wo hast du denn den Jungen schon mal gesehen?«
    Allora antwortete nicht, denn sie war abgelenkt und bemühte sich äußerst intensiv, eine Motte aus einem Wasserglas zu fischen, das halb voll auf der Arbeitsplatte stand, und dabei jaulte sie, weil sie Angst hatte, die Motte würde ertrinken.
    »Langsam, ganz langsam. Man kann mit Allora reden, aber es ist nicht einfach.«
    Anne verhielt sich ganz still. Die Spannung war fast unerträglich. Hier war jemand, der etwas wusste, sie konnte es kaum glauben.
    Die Motte war gerettet. Aber jetzt kam hinter einem Lavendelbusch eine fette Kröte zum Vorschein, schleppte sich langsam und schwerfällig über den Kies und machte dabei Geräusche, als würde ein Mensch über den Kies gehen. Allora sprang auf die Kröte zu, nahm sie und kraulte ihr den Hals.
    »Ist das furchtbar«, flüsterte Anne.
    »Allora liebt Tiere. Sie liebt jede Kreatur. Sie tut keiner Fliege was zuleide. Sie macht zwischen sich und anderen Lebewesen keinen Unterschied.« Allora hockte sich hin und kraulte die Kröte weiter. Sie war völlig versunken und beachtete Kai und Anne nicht mehr.
    »Sie heißt Allora«, flüsterte Kai, »weil sie nur dieses eine Wort sprechen kann. Sie wohnt in San Vincenti bei Fiamma. Fiamma hat sie vor vielen Jahren aus einem Heim geholt. Zuerst wohnte sie bei der alten Giulietta und hat der alten Frau geholfen, bis sie starb. Und weißt du, wo die alte Giulietta mit Allora wohnte?« Anne schüttelte den Kopf. »In Casa Maria, Enricos Haus.«
    Allora setzte die Kröte ins Blumenbeet und lächelte zufrieden. »Ällora, ist das lange her, seit du den Jungen gesehen hast?«, wandte sich Kai erneut an Allora.
    Allora nickte.
    »Aber du kannst dich trotzdem gut erinnern?«
    Allora nickte.
    »Was hat der Junge gemacht? Hat er gespielt?«
    Allora sah einen Moment erstaunt auf. Dann schüttelte sie heftig den Kopf.
    »Was hat er gemacht?«
    Allora schüttelte immer weiter den Kopf. »War der Junge allein?«
    Allora schüttelte wieder den Kopf.
    »Wer war bei ihm? Ein Mann?«
    Allora

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