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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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der er vor ihrem Gesicht herumfuchtelte. Anne wich immer weiter zurück, bis sie im wahrsten Sinne des Wortes mit dem Rücken an der Mühlenwand stand. Sie roch seinen Atem, der nach Alkohol stank. Was für ein primitiver Kerl, dachte sie, was für ein ungehobeltes Arschloch, was für ein mieses Schwein. Und ein weiteres Mal versuchte sie verzweifelt, aus diesem Albtraum aufzuwachen.
    Der Mann fluchte, so viel verstand Anne. Und plötzlich ging er zu seinem Auto, riss die Fahrertür auf und sprang hinein. Aus dem offenen Fenster schrie er ihr noch zu, dass er wiederkommen werde. Wenn es nötig sein sollte, jeden Tag. Bis sie kapiert hätte, dass er ein Recht habe, hier zu sein. Er habe das Wegerecht und könne so oft er wolle durch ihren Innenhof fahren, um zu seinem Grundstück zu gelangen.
    Schließlich fuhr er langsam los. Er kroch geradezu über den Hof, bremste, sah sich nach Anne um, als wolle er doch noch einmal zurückkommen, bis er endlich durch den Bach, direkt am Naturpool vorbeifuhr und im Wald verschwand.
    Sie hörte noch lange das Motorengeräusch, während sie mit dem Fuß die Fahrspuren im Kies, die der Jeep hinterlassen hatte, zuschob. Die letzten Sätze hatte sie verstanden. Was meinte er mit dem »Wegerecht«? War da mit dem Vertrag etwas schief gelaufen? Hatte Kai irgendetwas übersehen? Gab es einen Passus im Vertrag, den er ihr nicht übersetzt oder falsch erklärt hatte? Oder war sie gar betrogen worden?
    Anne rannte ins Haus und holte aus dem kleinen Sekretär im Kaminzimmer den Kaufvertrag. Dann schloss sie sorgfältig jedes Fenster und jede Tür, verriegelte alles was zu verriegeln war, und ging zu ihrem Auto.
    Schon wieder war jemand aufgetaucht, der ihr Angst machte. Aber vor allem wollte sie wissen, woran sie war. Jetzt sofort. Wenn er das nächste Mal wiederkam, wollte sie ihm Paroli bieten oder ein Missverständnis aus der Welt schaffen können.
    Erst auf dem Weg nach Siena fiel ihr ein, dass sie den Mann gar nicht gefragt hatte, wie er hieß und in wessen Auftrag er überhaupt gekommen war.
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    Anne fuhr diesmal durch das Porta Romana nach Siena hinein und fand auf Anhieb einen Parkplatz vor dem Ospedale Psichiatrico S. Nicolo, einem gewaltigen und Respekt einflößenden Gebäude. Es war jetzt zehn vor fünf, sie freute sich darauf, Kai zu überraschen, und hoffte inständig, dass er schon zu Hause war.
    Anne schlenderte die Via Roma hinunter und ließ sich Zeit. Der Betrieb in der Stadt nahm zu, einige Geschäfte öffneten erst jetzt nach der langen Siesta.
    Sie kaufte in einem winzigen Laden eine Flasche Rotwein, gefüllte Tortellinis, Rucolasalat und hundert Gramm Prosciutto, geräucherten Schinken, der gut zum Rucola passte. Wenn sie Kai schon überfiel, wollte sie wenigstens etwas zum Abendbrot mitbringen, sie wusste, dass in seinem Jung gesellenkühlschrank meist gähnende Leere herrschte. Kai ging lieber in die kleine Trattoria an der Ecke, wenn er Hunger hatte, als sich selbst etwas zu ko chen. Auf die Dauer war das ein teures Leben, denn auch in einer schlichten Trattoria war unter zwölf Euro kein Pastagericht mehr zu bekommen.
    Als Anne die Piazza del Campo erreichte, überlegte sie, ob sie sich noch einen Moment auf dem Platz in die Sonne setzen sollte, aber dann entschied sie sich dagegen. Das konnte sie immer noch tun, wenn Kai nicht zu Hause sein sollte. Sie spürte, dass sie unwillkürlich immer schneller ging. Obwohl sie sich erst vor wenigen Stunden in Valle Coronata getrennt hatten, konnte sie es kaum er warten, ihn zu sehen.
    Seit sie Kai kannte, tauchte Harald immer seltener in ihren Gedanken auf, und sie sehnte sich danach, mehr Zeit mit Kai zu verbringen. Die Vorstellung, er könnte plötzlich wieder aus ihrem Leben verschwinden, erschreckte sie. Die Tage in Valle Coronata wären unendlich, ohne Kai erschien ihr Italien leer und kalt. Er fehlte ihr, das musste sie sich jetzt eingestehen, er fehlte ihr an jedem Tag, den sie allein verbrachte, und noch mehr fehlte er ihr in der Nacht.
    Ein tiefes Glücksgefühl erfüllte sie, als sie an den bevorstehenden Abend dachte, und beinah vergaß sie den merkwürdigen Jeepfahrer in Valle Coronata und den eigentlichen Grund ihres Besuches.
    In der Via dei Rossi blieb sie einen Moment stehen und sah zu seinen Fenstern hinauf. Das Haus lag jetzt am Nachmittag im Schatten, und die Fenster waren geöffnet. Annes Herz klopfte wie wild. Er war also zu Hause, denn sie wusste, dass er immer die Fensterläden schloss, wenn er die

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