Der Kindersammler
schüttelte wieder den Kopf.
»Wer denn? Ein Tier?«
Allora schüttelte jetzt extrem heftig und energisch den Kopf. »Eine Frau?«
Auch das verneinte Allora Kopf schüttelnd.
Kai sah Anne an. »Ja, was denn nun? Verstehst du das?«
»Moment.« Anne lief ins Haus und kam kurz darauf mit einem Block und einem Bleistift wieder und gab beides Allora.
»Allora«, sagte Kai, »kannst du uns aufmalen, wer bei dem kleinen Jungen war. Kannst du das?«
Allora nickte. Alle drei gingen zurück in die Küche und setzten sich. Allora hielt den Stift völlig verkrampft und malte extrem langsam, gab sich große Mühe und war nie zufrieden. Anne und Kai konnten nichts erkennen, denn bereits nach wenigen Strichen zerriss Allora jedes Mal das Blatt.
»Mal weiter, Allora«, versuchte Kai sie aufzumuntern. »Es muss nicht schön und nicht perfekt sein. Nur so, dass man ein bisschen was erkennt.«
»Allora«, sagte Allora und seufzte laut. Dann zeichnete sie weiter und zerriss das Blatt nicht mehr.
Als sie fertig war, hatte sie ein Gesicht gemalt, das Hörner auf dem Kopf hatte. An dem Gesicht klebte ein halsloser Körper. Die Figur hatte eine Hose an und hielt in der Hand eine Forke.
Kai betrachtete das Bild fassungslos. »Der Teufel«, sagte er. »Sie hat den Teufel gemalt.«
Allora nickte und lächelte. »Allora«, sagte sie stolz.
»So kommen wir nicht weiter«, stöhnte Anne.
»Doch doch. Wir brauchen nur ein bisschen Geduld.«
Allora sah Kai liebevoll an. Dann setzte sie sich auf Kais Schoß und küsste ihn heftig.
»Kannst du mir das auch erklären?«, fragte Anne genervt.
»Ja«, meinte Kai, »später«, und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund, als Allora ihn wieder freigab und zurück auf ihren Stuhl rutschte. »Lass das jetzt mal, Allora, wir wollen doch noch viel mehr wissen über den kleinen Jungen. Es ist wichtig, weißt du ... Anne ist die Mutter von dem Jungen und macht sich große Sorgen. Sie weiß nämlich nicht, wo der Junge ist. Weißt du, wo der Junge ist?«
Allora nickte.
Annes Herz setzte einen Moment aus.
»Wo? Allora, wo?«
Allora stand auf und rannte aus der Küche. Sie lief mit ihren nackten Füßen so geschickt und leichtfüßig wie ein Reh über den Hof und hinter der Mühle vorbei. Einen Moment war sie hinter dem Haus verschwunden und nicht zu sehen. Aber dann tauchte sie wieder auf. Sie stand am Rand des Pools wie eine graue, unwirkliche Gestalt. Ihre weißen Haare leuchteten im Mondlicht, und sie zeigte mit dem Finger auf das tiefschwarze Wasser.
Toscana, 2004
Jetzt hatten sie es fast geschafft. In der Ausfahrt »Valdarno« nahm Bettina die Kurve viel zu schnell, sodass sie Schwierigkeiten hatte, den Wagen wieder unter Kontrolle zu bringen. Die Räder quietschten, und der rote Passat schleuderte leicht, bis Bettina abbremsen konnte.
»Spinnst du?«, fragte Mareike erschrocken.
»Ich kann nicht mehr«, murmelte Bettina. »Ich hab von der Fahrerei die Schnauze voll.«
»Dann lass uns tauschen!«
»Nicht auf den letzten Metern. Guck du lieber in die Karte, damit wir uns zu guter Letzt nicht auch noch verfahren.«
Bettina bezahlte beim Kassierer die Maut-Gebühr, murmelte ein müdes »Grazie, Buonasera«, bog rechts ab und fuhr durch das Industrieviertel von Montevarchi.
Sie waren am Freitagfrüh in Berlin gestartet und jetzt seit zwei Tagen unterwegs. Im bayerischen Holzkirchen, kurz vor der österreichischen Grenze, hatten sie im Hotel »Zur Alten Post« übernachtet. Edda und Jan hatten mit Begeisterung zum Abendbrot Sauerbraten mit Knödel gegessen, den Abend ansonsten allerdings »ätzend« gefunden, da es in dem kleinen Ort nichts zu sehen, nichts zu unternehmen und erst recht nichts zu erleben gab. Nach anderthalb Stunden gemeinsamen Doppelkopf-Spielens waren Edda und Jan erleichtert in ihrem Zimmer zum Fernsehen verschwunden, während Mareike und Bettina in der Gaststube noch ein Bier tranken.
Als sie die nötige Bettschwere hatten, gingen sie in ihr Zimmer, das direkt neben dem von Jan und Edda lag. Mareike horchte noch kurz an der Tür der beiden, aber als alles still war und sie nichts mehr hörte, war sie beruhigt.
Im Bett lag Mareike mit verschränkten Armen und starrte an die Decke. Offensichtlich war sie in Gedanken immer noch im Büro. Bettina schmiegte sich an sie und begann, zart an Mareikes Ohrläppchen zu knabbern. »Versuche nicht herauszufinden, was jetzt passiert. Du brauchst nicht zu ermitteln, ich sag es dir: Ich mache dir jetzt den Tätertyp B.
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