Der Kindersammler
dem Tisch unterm Nussbaum viel öfter hin- und herlief als nötig.
Kai erklärte dem Baggerfahrer, was zu tun war, und der Bagger begann mit der Arbeit. Mit seiner Schaufelkralle schlug er den Zement auf und brach Stück für Stück aus der Betonplatte.
Anne, Harald und Kai standen stumm am Rand des Pools und beobachteten, wie der Bagger den Boden des Pools immer weiter abräumte.
Das Erste, was Anne sah, war ein winziges Stück des Eiffelturms. Sie stieß einen Schrei aus und krallte sich an Haralds Pullover fest als habe sie Angst, vornüberzufallen.
»Das T-Shirt aus Paris, das da ist Felix' T-Shirt, das wir ihm in Paris gekauft haben. Er hatte es an dem Karfreitag an«, stammelte sie mühsam und zeigte auf den Boden des Pools.
Harald schob Anne in Kais Arme. »Halt sie fest!«, sagte er.
Der Baggerfahrer arbeitete ungerührt weiter. Er hatte auf Grund seiner Ohrenschützer und durch den Krach, den der Bagger machte, weder Annes Schrei gehört, noch die Aufregung bemerkt, die entstanden war.
»Hören Sie auf.«, brüllte Harald, aber der Baggerfahrer bekam nichts mit und arbeitete stoisch weiter. Daraufhin rannte Harald auf die dem Bagger gegenüberliegende Seite des Pools und wedelte mit den Armen, wie ein Lotse, der ein Flugzeug zum Abbremsen bewegen will.
Der Baggerfahrer stoppte die Maschine und nahm die Ohrenschützer ab.
»Kleinen Moment Pause«, sagte Kai auf Italienisch. Der Baggerfahrer zuckte die Achseln und kletterte vom Bock. Er hatte noch nicht bemerkt, was im Pool zum Vorschein kam.
Der Baggerfahrer zündete sich eine Zigarette an und sah zu, wie sich Harald ins Becken schwang. Vorsichtig hob er jetzt mit der
Spitzhacke Stück für Stück aus der gebrochenen Betonplatte, und allmählich kamen das T-Shirt, die kurze Hose und schließlich der ganze kleine Körper zum Vorschein. Der Zement hatte die Leiche gut konserviert. Es gab keinen Zweifel mehr. Sie hatten Felix gefunden.
Anne weinte nicht. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, starrte in den Pool und atmete kaum. Kai hatte einen Arm um ihre Schulter gelegt und hielt sie fest. Harald stützte sich mit einer Hand an die Poolwand und versuchte zu begreifen, dass sein toter Sohn vor seinen Füßen lag. Der Baggerfahrer raufte sich die Haare und flüsterte kaum hörbar: »0 dio!«
Anne setzte sich auf die Erde. Alle Kraft wich aus ihrem Körper, sie sackte regelrecht in sich zusammen. Und dann hob sie ihren Kopf und sah Kai an. Ihr Gesicht war bleich und wächsern. »Enrico hat ihn umgebracht«, sagte sie tonlos. »Und wir sind die ganze Zeit auf ihn reingefallen.«
Der Baggerfahrer zerrieb seine Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger, und dann rannte er plötzlich los. Direkt hinter dem Pool einen schmalen Trampelpfad den Berg hinauf. Niemand beachtete ihn.
Anne, Harald und Kai schwiegen minutenlang und versuchten zu begreifen, dass Felix tatsächlich in diesem Pool einbetoniert worden war.
Annes Erstarrung löste sich als Erste. Sie kletterte in das Becken und berührte vorsichtig die Leiche. Und erst in diesem Moment begann sie zu weinen.
'Harald wischte sich mit dem Jackenärmel übers Gesicht, legte behutsam eine Hand auf Annes Schulter und sagte. »Lass uns hinfahren. Zeig mir, wo er wohnt. Ich will ihm noch einmal ins Gesicht sehen, und dann mach ich ihn fertig.«
Harald kletterte aus dem Pool. Der Baggerfahrer kam atemlos den Berg heruntergelaufen und sagte, »Ho telefonato. Vengono. I carabinieri vengono.«
Anne starrte ihn fassungslos an, als habe sie nicht verstanden, was er gesagt hatte, Kai nickte, und Harald explodierte. »Was hast du gemacht, du dummes Arschloch? Die Polizei gerufen? Was geht das dich an? Sein Gesicht war flammend rot. »Hier liegt unser toter Sohn«, schrie er weiter. »Wir haben ihn zehn Jahre lang gesucht, und du rufst einfach die Carabinieri? Das ist mein Problem, nicht deins, du Schwachkopf.« Haralds Stimme überschlug sich fast. »Ich gehe jetzt hin und schneide dem Mörder von diesem kleinen Jungen die Eier ab. Und dann rufe ich die Carabinieri. Ich tue das, verstehst du! Und zwar wann ich es will. Vielleicht in einer halben Stunde, vielleicht in einer Stunde oder erst morgen früh. Ich mach das, wenn ich es für richtig halte, du italienischer Volltrottel!«
Anne hatte Harald noch nie derartig schreien hören. Er stürmte auf den Baggerfahrer zu, der kein Wort verstanden hatte, und packte ihn an der Jacke, als wolle er ihn verprügeln. Aber Kai ging dazwischen.
»Hör auf«, sagte er
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