Der Kindersammler
jemand hier ist, falls Jan doch noch nach Hause kommt.«
Edda nickte und legte ihren Rucksack wieder ab. Die Traurigkeit, die sie ausstrahlte, als sie sich auf einen Stein setzte und über die bewaldeten Hügel blickte, brach Mareike fast das Herz.
Bettina hupte zweimal, als sie auf Casa Meria zurollten. »Damit die beiden sich nicht erschrecken. Schließlich kommt hier ja sonst niemand vorbei.«
Sie hielt direkt neben dem Haus und stieg aus. »Enrico! Jan!«, rief sie, aber bekam keine Antwort.
Mareike brauchte etwas länger, um aus dem Auto zu steigen und mit ihren Krücken vors Haus zu humpeln.
»Keiner da«, sagte Bettina. »Enricos Auto ist auch weg. Das ist ja komisch.«
Mareike spürte, wie die Panik in ihr aufstieg. Ganz ruhig, sagte sie sich, reagiere jetzt nicht als Mutter, sondern als Kommissarin. Du weißt doch, was zu tun ist. »Lass uns einmal ums Haus gehen«, sagte sie zu Bettina. »Sieh dich genau um. Sag mir, wenn dir irgendetwas auffällt, wenn irgendetwas anders ist als gestern.«
Bettina ging vor, Mareike humpelte hinterher. »Nichts«, sagte Bettina. »Mir fällt kein Unterschied auf. Aber ich hab gestern natürlich auch nicht so genau hingeschaut. Ich konnte ja nicht ahnen...«
»Schon gut«, sagte Mareike knapp, als sie sah, dass Bettina schluckte. Dann ging sie zur erstbesten Tür und drückte die Klinke herunter. Sie war offen. »Bleib draußen und sag mir, wenn jemand kommt. Ich sehe mich drinnen ein bisschen um.«
Damit verschwand Mareike im Haus, und Bettina ging vor dem Haus so auf und ab, dass sie gleichzeitig den Anfahrtsweg gut im Blick hatte.
Mareike zitterte am ganzen Körper, aber sie zwang sich, das Haus schnell und so konzentriert zu durchsuchen, wie sie es in anderen Häusern schon x-mal getan hatte. Die Krücken behinderten sie bei der Suche nur wenig, aber sie hoffte inständig, nicht fliehen zu müssen, das war mit Krücken schlicht unmöglich.
Sie begann mit der Küche. Es gab nur einen Schrank mit erschreckend wenigen Vorräten, noch nicht einmal das Nötigste war vorhanden. Ein Geschirrschrank, unter der Spüle ein einziger Lappen und ein Spülmittel. Eine Schublade mit Besteck, eine mit Kerzen, das war alles. Auf dem Tisch ein paar Konstruktionszeichnungen. Kein Geld, keine Zeitschriften, keine herumliegenden Bücher, noch nicht einmal eine Kiste zum Kramen. Mareike hatte nicht das Gefühl, dass in dieser Küche ein Mensch aß und trank und lebte.
Im noch nicht fertig ausgebauten zukünftigen Wohnzimmer fand sie eine Kiste mit Bettwäsche und Handtüchern und eine Hand voll Bücher. Dostojewskis »Schuld und Sühne«, James Joyces »Ulysses«, Robert Schneiders »Schlafes Bruder« und »Der Graf von Monte Christo« von Alexandre Dumas. Ansonsten war der Raum leer, der Kamin noch unbenutzt.
Im angrenzenden Zimmer sah sie sofort, dass sich hier eine Frau aufgehalten hatte. Auf einem Tisch, der als Schreibtisch diente, stand eine Vase mit einer noch nicht verwelkten Buschwindrose. Die Frau war also noch nicht lange fort.
Zwei Füllfederhalter, einige Kugelschreiber und Bleistifte steckten in einem schön geformten Kristallglas, in der Mitte des Tisches lag Briefpapier. Daneben ein Stapel mit Zeitschriften, Papieren und einigen Klemmordnern. Als Mareike den Stapel durchblätterte, zuckte sie plötzlich zusammen. Sie erkannte den Jungen auf dem Foto sofort wieder. Es war ein Bild von Felix. Er stand am Strand und ließ scherzhaft seine winzigen Muskeln spielen.
Also doch, dachte Mareike. Er ist in Valle Coronata eingebrochen, hat das Foto gestohlen und es dann zwischen den Sachen seiner Frau versteckt.
Während sie die Kisten durchwühlte, die in Carlas Zimmer noch unausgepackt auf der Erde standen, dachte sie weiter nach.
Hatte Enrico das Foto zu ihren Sachen gelegt, weil er nicht wusste, wohin damit? Falls seine Frau nicht existieren sollte, war dies sowieso sein Schreibtisch. Ein sehr femininer Schreibtisch. Also ein Homosexueller, der kleine Jungen umbrachte und wahrscheinlich auch missbrauchte. Das passte für Mareike noch besser ins Bild.
Mareike brach der Schweiß aus. Was ging hier vor? Und wo waren Jan und Enrico?
Im Schlafzimmer lag eine Matratze auf der Erde, darauf eine Jacke und eine Hose von Enrico.
Ansonsten gab es keinen Ort, an dem Enrico persönliche Dinge aufbewahrte.
Als Letztes nahm sich Mareike Enricos Werkstatt vor, die im Gegensatz zu der spärlichen Einrichtung des Hauses erstaunlich gut bestückt war. Es war eine mühevolle
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