Der Kindersammler
Arbeit, aber sie zwang sich, jede kleine Dose mit den unterschiedlichsten Schrauben, Dübeln und Nägeln zu öffnen, so wie sie es vor Jahrzehnten auf der Polizeischule gelernt hatte. Wo versteckte man am besten einen außergewöhnlichen Diamanten? Unter Diamanten.
Wo sind sie bloß hingefahren?, dachte Bettina. Vielleicht nur in ein Geschäft, um ein paar Schrauben und Materialien für das Gehege zu kaufen. Das wäre denkbar. Aber warum war dann Jans Fahrrad nicht hier? Das nahm man doch nicht mit, nur um ein paar Erledigungen zu machen? Und wenn sie einen kurzen Spaziergang oder eine gemeinsame Radtour machten, warum fehlte dann Enricos Auto?
Oder war Jan am Ende hier überhaupt nicht angekommen, und es war Zufall, dass Enrico nicht zu Hause war?
Sie begann so flehentlich zu beten, wie sie es seit ihrer Kindheit nicht mehr getan hatte.
Bettina konnte später nicht mehr sagen, ob eine halbe Stunde oder nur wenige Minuten vergangen waren, bis ihre Freundin aus dem Haus kam. In der Hand hielt sie eine kleine Schachtel. Bettina würde den Gesichtsausdruck Mareikes nie mehr aus ihrer Erinnerung löschen können, denn in diesem Moment, als
Mareike auf sie zuhumpelte und sie schweigend ansah, wusste sie, dass etwas Schreckliches geschehen war. Eine Katastrophe, die mit Jan zu tun hatte.
»Letztendlich kann ich es erst hundertprozentig beweisen, wenn das, was ich gefunden habe, im Labor untersucht worden ist«, sagte Mareike. »Aber glaub mir, Bettina, hier wohnt der Kindermörder, der in Deutschland drei und in Italien mindestens auch drei Leine Jungen umgebracht hat. Und wenn nicht ein Wunder geschieht, ist Jan sein nächstes Opfer.« Sie öffnete die Schachtel. »Schau genau hin, Bettina. Das sind seine Trophäen. Sechs Eckzähne auf einem Stückchen Samt. Ich bin sicher, es sind die Zähne von Daniel, Benjamin, Florian, Felix, Filippo und Marco.«
91
Das Haus, das Enrico ihm zeigte, hatte zugemauerte Fenster und Türen. Es sah irgendwie schrecklich tot und düster aus, fand Jan, aber es war auch spannend und gruslig zugleich, durch ein kleines Loch, das aus einem der zugemauerten Fenster herausgebrochen war, hineinzuklettern.
Drinnen war es dunkel und feucht. Es roch muffig und ein bisschen säuerlich, so wie es zu Hause in der Speisekammer gerochen hatte, als hinter dem Regal mit Konservendosen einmal eine tote Maus langsam in Verwesung übergegangen war.
»Warte einen Moment«, sagte Enrico zu Jan. »Ich hole nur noch was aus dem Auto. Ich bin gleich zurück.«
Enrico kletterte aus dem Fenster, Jan hockte sich auf den Fußboden. Sehen konnte er nicht viel. Der Boden war lehmig, er konnte nicht fühlen, ob er feucht oder nur kühl war. Langsam tastete er sich an der Wand entlang. Sein Gesicht geriet in ein Spinnennetz, und er schüttelte sich vor Ekel. Mühsam versuchte er, die Fäden aus seinen Haaren zu entfernen, die an seinen Fingern klebten wie Zuckerwatte zwischen den Zähnen. Nur dass Zuckerwatte süß und überhaupt nicht eklig war. Gerade als er überlegte, ob er nicht auch lieber wieder aus dem Fenster klettern sollte, kam Enrico zurück. Er zündete eine Kerze an, und Jan konnte sehen, was er noch mitgebracht hatte. Eine Decke, Geschirrhandtücher, eine Wasserflasche, eine Flasche Grappa, Seile und eine Zange.
Enrico lächelte im Licht der Kerze. »Du musst leise sein«, flüsterte er. »Niemand darf wissen, dass wir hier sind. Das ist ein geheimer Ort mit magischen Kräften. Man muss eine Nacht hier bleiben, und dann darf man sich etwas wünschen. Und dieser eine Wunsch geht in Erfüllung.«
Jan erschrak. »Ich kann nicht hier bleiben! Bettina kommt mich abholen!«
»Wo?« »Bei deinem Haus!«
,Wann wollte sie kommen?«
»Heute Nachmittag. Ich weiß nicht genau. Vielleicht um drei oder vier.«
»Wieso hast du mir nichts davon gesagt?«
»Es ging vorhin alles so schnell, und du hast gesagt, wir sind gleich zurück. Kann ich nicht ein andermal wiederkommen?«
»Nein «
»Aber ich kann nicht hier bleiben!« Jan fing an zu zittern. Er wusste, wie schnell sich Bettina und Mareike Sorgen machten. Einmal hatte er Bettina weinen sehen, das war schrecklich, und er wollte so etwas nie wieder erleben. Edda war zu einer Freundin gegangen, um dort zu übernachten, aber als Mareike um elf bei der Freundin anrief, ging niemand ans Telefon. Um zwölf auch nicht und nicht um eins und nicht um zwei. Mareike telefonierte sich die Finger wund, und Bettina saß im Wohnzimmer auf dem Teppich und weinte. Im
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