Der Kirschbluetenmord
hindurch in die Höhe wand. Sano stieg aus dem Sattel, führte sein Pferd an der Leine und setzte den Weg zu Fuß fort. Schon bald keuchte er von der Anstrengung des Aufstiegs und schwitzte trotz der feuchten, durchdringenden Kälte. Die Höhenlage und die dünne Luft verursachten ihm Schwindelgefühle, und jeder Atemzug schien vom harzigen Duft der Kiefern schwer und klebrig zu sein.
Doch die Landschaft überwältigte sogar Sanos aufgewühltes Inneres. In ihrer unwirklichen, erhabenen Schönheit kam sie ihm vor wie ein Bild aus einer alten Sage. Aber das Gelände war wild und gefährlich: Bei jedem Schritt lösten sich Steine vom Pfad und fielen mit peitschenartig knallenden Geräuschen die kahlen Felshänge hinunter. Wasserfälle stürzten donnernd über Steilabbrüche und Felskanten, um in der Tiefe dann still und gelassen den Weg nach Osten fortzusetzen, zum Meer, das Sano hin und wieder in der Ferne schimmern sah. Erdspalten stießen Dampfwolken aus: der Atem des Drachen, der unter dem großen Vulkan wohnte, dem Fujiyama, der sich zur Zeit hinter Wolken im Nordwesten versteckte. Am Grund einer Schlucht war ein schäumender Fluß zu sehen, der verschwand und wieder auftauchte. Hohe, wackelige Holzbrücken führten darüber hinweg zu winzigen Bergdörfern.
Ein gespenstischer Zauber umhüllte diese Dörfer wie ein magischer Bann. Die Bauern grüßten Sano mit höflichen Verbeugungen, doch sie kamen ihm unwirklich, geisterhaft vor. Er begegnete nur wenigen anderen Reisenden. Diejenigen, die im Sommer nach Hakone kamen, um die gesundheitsfördernden Wohltaten der frischen Luft, der Stille und der Heilquellen zu genießen, reisten im Winter nicht hierher, weil das Klima in der kalten Jahreszeit als unbekömmlich galt. Aus diesem Grund sah Sano sich den Gefahren der Straße allein gegenüber: den Räuberbanden; den uralten Dämonen, die in Höhlen hausten und unaufmerksamen Reisenden böse Streiche spielten; und dem geheimnisvollen Beobachter, der nun zum Mörder geworden war. Sano konnte seine bösartige Präsenz zwar nicht mehr spüren, doch er ging davon aus, daß der Unbekannte ihm folgte; deshalb hatte er die Hand am Griff seines Schwertes und ließ den Blick ständig umherschweifen.
Einmal blieb er stehen und rief: »Hier bin ich! Komm her und hole mich, wenn du dich traust!« Als Sano hörte, wie das Echo seiner Stimme in den Bergen widerhallte, fragte er sich, ob er den Verstand verlor.
Dann, endlich, sah er in der Ferne das Dorf Hakone tief unter sich am Weg. Ihm fiel ein Stein vom Herzen, der Einsamkeit entronnen zu sein und in die gewohnte, zivilisierte Welt zurückzukehren. Die gut einhundert Häuser des Dorfes standen dicht an dicht an einem Teilstück der Tōkaido, das an der östlichen Küste des Ashinoko-Sees vorüberführte. Der See war mit Fischerbooten übersät und spiegelte den bleiernen Himmel wider. Hohe, bewaldete Berge, von denen einige fast senkrechte Felswände aufwiesen, umschlossen das Dorf zur Hälfte. Der Fuji -san überragte sie alle: eine pastellene, silberne Spitze, die einen Hut aus durchscheinenden weißen Wolken trug.
Als Sano den Abstieg zum Dorf beendet hatte, verspürte er tiefe Erleichterung. Er hatte sein Ziel jetzt fast erreicht. Bald würde er sich in einem gemütlichen, sauberen Gasthof von den Strapazen erholen können, gut essen und trinken und seinen schmerzenden Muskeln durch ein heißes Bad Linderung verschaffen. Doch als er zur Postenstation gelangte, sah er sich einem Hindernis gegenüber, mit dem er eigentlich hätte rechnen müssen. Die Wachtposten an der Kontrollstelle von Hakone waren für ihre Strenge und Unnachgiebigkeit bekannt. Die Lage des Dorfes – die Berge zur einen Seite, der See zur anderen – machte es zu einer natürlichen Falle, in der die Männer des Shōgun verdächtig aussehende Reisende rasch und problemlos festnehmen konnten, insbesondere Samurai, die keine getreuen Verbündeten der Tokugawas waren. Zwanzig Posten in voller Bewaffnung bemannten die befestigten Tore, die den Weg ins Dorf versperrten. Die Männer ließen Sano nicht hindurch.
»Kommt mit mir«, sagte einer der Posten.
In einem kleinen, schmucklosen Zimmer im Wachthaus verbrachte Sano eine Stunde damit, Fragen zu beantworten, die drei Beamte auf ihn niederprasseln ließen, welche das Wappen der Tokugawas auf ihren Kimonos trugen.
»Aus welcher Familie stammt Ihr? Woher kommt Ihr? Wohin wollt Ihr? Was ist der Zweck Eurer Reise? Wer ist Euer Herr? Welchen Beruf übt Ihr aus,
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